Denn Leben und Tod sind ein und dieselbe Sache – wie die zwei Seiten meiner Hand, die Innenfläche und der Handrücken. Doch obwohl sie ein Ganzes formen, sind sie verschieden … Sie können weder getrennt noch verwechselt werden.
— Ursula K. Le Guin1 [i]
Ich fuhr mit meinem zehnjährigen Sohn Cary zu einem kleinen Treffen, um mit ein paar Freunden in einen gefrorenen Teich zu springen. Wir sprachen über das Thema Sicherheit. Einer unserer Freunde ist Aushilfslehrer im öffentlichen Bildungssystem. Die Sicherheit hat oberste Priorität und „in sicheren Händen“ wird im Erziehungswesen wie ein Mantra ständig wiederholt. Ich erzählte Cary von meinem Lieblingsmotto (das, wie mir gesagt wurde, seinen Ursprung beim Burning Man haben soll): „Safety third“ – Sicherheit an dritter Stelle. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Prioritäten im Leben eine feste Rangordnung haben sollten. Mit dem gesunden Menschenverstand würde man es vermutlich so übersetzen: „Sicherheit ist wichtig, aber nicht das Wichtigste im Leben.“
Cary, der den Spruch wörtlich nahm, fragte mich: „Wenn Sicherheit an dritter Stelle kommt, was kommt dann an erster und zweiter Stelle?“
Ich zögerte einige Sekunden, bevor ich erwiderte: „An erster und zweiter Stelle stehen Geben und Empfangen, nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Geben ist, was du in die Welt gibst. Deine Kunst und Musik, die Heilarbeit deiner Mutter, die Liebe, die du anderen zeigst; es ist alles, was du tust, um die Welt lebendiger und schöner zu machen.“
„Empfangen bedeutet, das Leben auf dieser Welt in vollen Zügen zu genießen. Es bedeutet, in ehrfürchtigem Staunen die Herrlichkeit der Schöpfung zu betrachten. Es bedeutet, sich an den Geschenken der anderen zu erfreuen, an den Tieren und Pflanzen und dem Himmel, dem Gesang der Vögel, der Kreativität anderer Menschen. Es bedeutet, zu spielen und zu genießen. Wie deine Großmutter sagte, bevor sie starb: ‚Das Leben hat so viel zu bieten!‘“
Cary reichte dies als Antwort. Ich fügte hinzu: „Es ist nicht so, dass Sicherheit unwichtig wäre. Wenn du dir ein Bein brichst oder einen tödlichen Unfall hast, dann kannst du in dieser Welt nichts mehr geben und empfangen. Aber die Sicherheit ist dem Geben und Empfangen untergeordnet. Sie darf nicht über den beiden stehen. Wir sind hier, um ganz in der Welt zu sein, um ganz zu leben, nicht um auf Nummer sicher zu gehen und später ins Grab zu fallen, ohne je ein Risiko eingegangen zu sein.“
Auf den Ausdruck “Safety third” habe ich mich irgendwann im Jahr 2021 oder 2022 – im Zusammenhang mit Covid – zum ersten Mal öffentlich berufen. Ich war ein wenig irritiert über die Vehemenz einiger Reaktionen. Mir wurde vorgeworfen, egoistisch zu sein, ohne Mitgefühl und ohne Sorge für andere. Die darunterliegende Kritik könnte man so auslegen: „Indem du die Sicherheitsregeln missachtest, keine Maske trägst und dich nicht impfen lässt, indem du dein Zuhause verlässt und Gesundheitsschutzmaßnahmen infrage stellst, setzt du für deine selbstsüchtige ‚Freiheit‘ andere einem Risiko aus. Und selbst wenn du nur deine eigene Sicherheit riskierst, erlegst du damit trotzdem der Gesellschaft Kosten auf. Wenn du durch dein riskantes Verhalten ein Krankenhausbett belegst, nimmst du dieses Bett jemand anderem weg.“
Ganz abgesehen davon, dass „Freiheit“ nicht an erster, zweiter oder dritter Stelle meiner Liste steht – jedenfalls nicht als losgelöstes Ideal: Freiheit können wir nur als die Freiheit von oder zu etwas verstehen. Die Freiheit zu geben und zu empfangen. Die Freiheit zu leben. Aber ich möchte hieraus keine Frage der Freiheit machen, denn anders als das Narrativ der Medien uns glauben machen wollte, war Freiheit niemals die Hauptmotivation der sogenannten „Maskengegner“ und „Impfgegner“. Wir hielten diese Vorschriften für falsch und auf Hysterie, gekaufter Wissenschaft und systemischer Ideologie begründet und dann durch autoritäre Kräfte als Vorwand für mehr soziale Kontrolle ausgenutzt. Mitgefühl und Sorge um das öffentliche Wohl waren die wichtigsten Motivatoren für unseren Dissens.
Das oben genannte Argument setzt das als selbstverständlich voraus, was ich mit den Worten „Safety third“ hinterfragen möchte. Nun, ich glaube nicht, dass Masken, Lockdowns und die Impfungen tatsächlich Leben gerettet haben, aber was, wenn doch? Was, wenn wir jedes Jahr tausend Leben retten (d. h. tausend Todesfälle hinauszögern) könnten, indem wir einen dauerhaften Lockdown anordnen? Sollten wir das tun? Was, wenn wir jedes Jahr fünfzig Todesfälle verhindern und die Krankenhausbelegung verringern könnten, indem wir das Schwimmen am Strand verbieten? Sollten wir das tun? Nein? Sagen Sie das mal den trauernden Müttern der Kinder, die ertrinken, und den Angehörigen derer, die durch übermäßige Sonneneinwirkung an Hautkrebs erkranken. Zu Beginn der Pandemie haben Anthony Fauci und andere Amtsträger gemeint, wir sollten einander nie wieder umarmen oder die Hände schütteln. Schmuddelige Angewohnheit, nicht wahr? Nun, all diese Konzepte scheinen absolut sinnvoll, wenn wir die Sicherheit zu unserem Gott ernennen. Aber wir sind hier, um zu leben, nicht um das Leben zu überleben. Wir sind hier, um in den Wellen zu spielen, uns zu umarmen, zusammen zu sein, um in unseren Körpern zu leben, mit allen innewohnenden Risiken. Ich verlange nicht von anderen, Risiken einzugehen, die nicht dem Geben oder Empfangen dienen – das wäre Leichtsinn, nicht Mut –, aber ebenso wenig hat irgendwer das Recht zu verlangen, dass andere, oder die Gesellschaft als Ganzes, ihr Leben einschränken, um Risiken auf ein Minimum zu reduzieren.
Da inzwischen die meisten sich so verhalten, als hätten sie vergessen, dass die Covid-Pandemie je geschehen ist, werde ich nicht auf den Problemen der Covid-Zeit herumreiten. Ich ziehe sie hauptsächlich als Paradebeispiel dafür heran, wie politisch gefährlich der Sicherheitswahn ist und wie lähmend er auf den Geist einwirkt.
Die politischen Gefahren sind offensichtlich. Autoritäten können eine Bevölkerung, die vor allem auf Sicherheit bedacht ist, manipulieren, indem sie eine Gefahr nach der nächsten heraufbeschwören. Die Sicherheit als oberste Priorität rechtfertigt jede Maßnahme, die uns Sicherheit bietet. An oberster Stelle Sicherheit; Bürgerrechte: Nebensache. Einen Vorgeschmack für das, was uns 2020 erwartete, bekamen wir nach 9/11. Erst war es die „Sicherheit“, dann die „Gesundheit“, die eine neue Ausweitung der zentralisierten Macht rechtfertigte. Irgendwann jedoch verloren sowohl der Terrorismus als auch die Pandemie ihre Fähigkeit zu terrorisieren und damit ihren Nutzen als Rechtfertigung für totalitäre Maßnahmen (Überwachung, Zensur, Propaganda etc.). Aber die psychosozialen Grundbedingungen für eine neue Kampagne der Angst bleiben bestehen.
Ebenso offensichtlich ist, warum der Sicherheitswahn den Geist lähmt. Er zieht sich wie ein Schnürring um das Leben. Es ist immer ein wenig gefährlich, die eigenen Grenzen auszutesten. Es ist immer etwas gefährlich, in das Unbekannte vorzudringen. „Safety first“ schrumpft den Horizont der Möglichkeiten. Was als Vorsicht beginnt, wird zu Bequemlichkeit, dann zu Gewohnheit, und schließlich zum Gefängnis. Der Gefangene trägt den Schlüssel in seiner Gesäßtasche und findet Trost in seiner vorgetäuschten Hilflosigkeit. Ich möchte dich nicht belehren, sondern ich spreche aus eigener Erfahrung. Man fühlt sich immer weniger lebendig. Wofür leben, wenn ich in den Mauern meiner Festung festsitze und wehmütig aus dem Fenster auf eine üppige, aber weit entfernte Landschaft blicke?
Es ist nutzlos, den Sicherheitswahn anzuprangern, ohne seinen Ursachen auf den Grund zu gehen. Unter welchen Bedingungen wird das Vermeiden von Verletzung und Tod zum Lebenszweck? So gesehen ist der Sicherheitswahn als eine Art Wahnsinn zu betrachten. Es hat nur einen Sinn, wenn jemand die eigene Sterblichkeit leugnet. Dann ist es kein Wunder, dass unsere Gesellschaft während der Pandemie so extreme Schutzrituale durchgeführt hat. Wir leben in einer Kultur, die paradoxerweise den Tod gleichzeitig leugnet und zum Gegenstand des äußersten Grauens macht. Wir leugnen ihn, indem wir ihn hinter Euphemismen verstecken, indem wir ihn vor dem öffentlichen und privaten Auge verstecken, indem wir in sinnlosen Heldentaten das Leben Sterbender um wenige qualvolle Wochen oder Tage verlängern, wie um etwas Vermeidbares abzuwenden. Aber vor allem leugnen wir den Tod durch unsere Distanz, durch unser Leben in Trennung von den Zyklen der Natur, in dem wir niemals Zeugen des Zappelns und Kreischens des Hasen in den Klauen des Adlers werden. Bei allem Leugnen und Distanzieren lauert der Tod umso größer in unserer psychischen Landschaft. Sein Terror entspringt zu einem wesentlichen Teil unserer Trennung vom Leben. Das getrennte Individuum der modernen Selbstwahrnehmung erlischt mit dem Sterben. Das beziehungsorientierte, interdimensionale Selbst indigener Weltanschauungen ist dagegen nicht auszulöschen, da nur ein kleiner Teil des wahren Selbst stirbt. Für den modernen Geist, für das getrennte Selbst, ist der Tod eine endgültige und unaussprechliche Katastrophe, zu schrecklich, um ihm ins Gesicht zu sehen. Natürlich werden wir da besessen von der Sicherheit, wie um uns Mut zu machen, dass mit der richtigen Vorsorge die ultimative Tragödie niemals einzutreffen braucht.
Der Sicherheitswahn hat noch einen weiteren Grund, der noch bedeutender ist. Wenn Sicherheit von der dritten zur ersten Priorität aufsteigt, fragt man sich: Was ist mit den ersten beiden passiert? Wo finden Geben und Empfangen ihren Platz? Dem „Safety first” liegt ein kulturelles Vergessen, ja ein Verzicht, des wirklichen Sinns des menschlichen Lebens zugrunde. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass wir als Gesellschaft unsere Hingabe an das Leben und die Schönheit der Erde weitgehend aufgegeben und stattdessen eine Zivilisation errichtet haben, die die Schöpfung entstellt und zerstört. Weniger offensichtlich, aber noch tragischer ist die Verflachung und Betäubung unseres Empfangens. Wir sind zu beschäftigt, zu abgelenkt, zu entfremdet, zu verletzt geworden, um die Herrlichkeit in allem, das wir sehen, hören, fühlen und loben können, voll und ganz zu empfangen. Die volle Annahme ist eine Funktion der Intimität, und das moderne Leben hat die Lebendigkeit und Intimität unserer Verbindungen getrübt. Da wir nur einen winzigen Bruchteil der Sinnesnahrung aufnehmen, die wir brauchen, sind wir ewig hungrig und verlangen nach immer intensiveren Reizen, um unser Bedürfnis nach Fühlen zu stillen. Sucht ist damit kein Versagen des Charakters oder des Willens. Sie ist ein Zeichen für echten, ungestillten Hunger.
Ich bitte dich, nichts davon als Verurteilung zu lesen. Es ist eher eine Diagnose. Ein von Scham motivierter Wandel wird unsere Lebendigkeit nicht wiederherstellen. Was könnte sie dann wiederherstellen? Trauer. Die Trauer ist das verkörperte Gewahrsein des Verlusts. Wenn wir den vollen Umfang unseres Verlusts erkennen können, die Tiefe unserer Entfremdung, dann schlagen wir eine neue Richtung ein. Alle Informationen werden zu uns kommen. Ohne Trauer zu fühlen, wissen wir nicht wirklich, was wir verloren haben und was wir verlieren werden. Die Trauer integriert den Verlust dessen, was uns lieb und teuer war. Die Trauer macht den Tod greifbar.
Wir sind weit, weit in das Hoheitsgebiet der Trennung vorgedrungen. Wir müssen zugeben, dass wir uns verirrt haben. Dann lösen wir uns in Tränen auf. Wir drehen uns um und sehen am Horizont das goldene Land. Nur tränende Augen können den Weg dorthin zurück sehen.
Übersetzt von Vanessa Groß, korrekturgelesen von Ingrid Suprayan. Die englische Originalfassung ist hier zu finden.
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Ursula K. Le Guin: Das ferne Ufer. Heine Verlag 1979.