Der Riss in der Welt
Da ist ein Riss in der Welt. Das ist es, was die Handlung in Ursula K. Le Guins Buch „Das ferne Ufer“ vorantreibt, dem dritten und meiner Meinung nach bedeutendsten Roman ihrer Erdsee-Reihe1.
Alle Freude, Vitalität und Zauberkunst entschwindet durch diesen Riss aus der Welt. Le Guins bedrückende Beschreibung davon, wie dieses Leck die Stadt Hort Town heimsucht, ist eine unheimliche Vorsehung dessen, was aus unserer eigenen Gesellschaft geworden ist:
Etwas stimmte nicht mit der Stadt Hort. Es lag fast greifbar in der Luft, und man war versucht, von einem Fluch zu sprechen, und doch hatte man nicht das Gefühl, als ob eine gegenständliche Ursache vorläge, eher war es ein Fehlen, eine Schwächung aller Kräfte, eine Krankheit, die den Besucher nicht verschonte … Auf den Plätzen und Straßen drängten sich die Menschen, die Geschäfte schienen zu blühen, doch herrschte weder Ordnung noch Wohlstand … Die Leute, die so geschäftig herumeilten, schienen kein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Die Handwerker setzten ihren Stolz nicht mehr darein, gute, solide Arbeit zu liefern, selbst die Diebe stahlen nur, weil sie nichts anderes tun konnten.
Le Guin hat diese Worte 1972 geschrieben, zu einer Zeit, als die USA allem Anschein nach noch eine lebenskräftige Nation war. Trotzdem erkannte sie die Vorzeichen eines tiefen kulturellen Übels und sah vorher, wohin es führen würde. Sie diagnostiziert nicht nur die Ursache, sondern verschreibt auch das Rezept für die Heilung, den Weg zur Wiedererlangung unserer Lebendigkeit.
Im Buch ist die Ursache des Problems ein böser Zauberer namens Cob, der unsterblich sein und den Tod besiegen möchte. Tatsache ist, dass Le Guin ihn niemals als böse beschreibt. Trotzdem ist meine Zuschreibung wohlüberlegt, schließlich könnte man Cobs Motivation als die ultimative Quelle des Bösen ansehen: das Bestreben, den Tod ein für alle Mal zu überwinden, und die Einbildung, dass dies möglich wäre. Denn was steckt wirklich hinter diesem Bestreben? Es ist das Bestreben, das getrennte Selbst auf ewig aufrechtzuerhalten. Es ist er Inbegriff von Selbstsüchtigkeit. Das Böse nimmt seinen Anfang nicht in Boshaftigkeiten. Boshaftigkeiten sind kein wesentlicher Bestandteil des Bösen. Boshaftigkeiten sind eine Konsequenz des Bösen.
Der Protagonist des Buches ist ein Junge namens Arren, der den Zauberer Ged auf seiner Reise begleitet, bei der er den Riss der Welt zu schließen versucht. Ged bittet Arren, die Menschen eines Gebietes zu beschreiben, das von diesem Fluch heimgesucht wurde. Arren antwortet: „Sie kommen mir wie kranke Menschen vor, wie Leute, denen gesagt wurde, dass sie nur noch ein Jahr zu leben haben, und die sich einreden, dass das nicht wahr sei, dass sie noch ewig weiterleben würden. So leben sie dahin, … ohne sich umzuschauen.“
Was wird aus uns, wenn uns gesagt wird, dass wir innerhalb eines Jahres (oder zehn, oder fünfzig) sterben müssen, und so tun, als wäre das nicht wahr? Können wir das Leben wertschätzen, wenn wir uns vorstellen, dass es nie enden wird? Können wir die Menschen um uns herum wertschätzen, wenn wir uns vorstellen, dass sie für alle Zeit bei uns sein werden? Hast du jemals erlebt, dass du dir im Angesicht des Todes eines geliebten Menschen wünschst, du könntest bloß noch einen Moment mit ihnen verbringen – einen Moment, in dem du dir vollständig bewusst bist, wie wertvoll ihre Gegenwart ist? „Wenn ich nur gewusst hätte, wie wertvoll sie war!“
Diese Eingebung kann man mit verschiedenen Worten beschreiben: Weisheit, Liebe, Hingabe, … aber ich werde sie gesunden Menschenverstand nennen. Gesunder Menschenverstand heißt, die Dinge so zu sehen und zu akzeptieren, wie sie sind. Vor zehn Jahren hat mir mein jugendlicher Sohn Jimi mit einem Anflug von Entsetzen und Betroffenheit von einer Erfahrung erzählt, die er „Derealisation“ nannte. Es war das Gefühl, dass das Leben eine Farce ist, dass die Welt und ihre Beziehungen unwirklich sind, Attrappen einer anderen, verlorenen Realität. Wie Le Guin schreibt: „Unter der Oberfläche erschienen die Dinge nicht ganz real.“
Denn er wusste tief in seinem Herzen, dass es nichts Wirkliches gab, dass die Wirklichkeit ohne Leben, ohne Wärme, ohne Farbe und Ton war … Es gab keine Höhen und Tiefen. Das Spiel von Licht und Schatten, die Farben, die auf dem Meer lagen und in den Augen der Menschen zu sehen waren, sie waren weiter nichts als das: Illusionen – und dahinter gähnte ein Nichts.
Jimis Frage machte mich traurig; gleichzeitig tröstete mich die Tatsache, dass er wenigstens an etwas Anstoß nahm, das die meisten Menschen als das normale Gefühl der Existenz hinnahmen.
Auf einer sozialen und politischen Ebene geht „Derealisation“ damit einher, alle Wesen, also sowohl Menschen als auch andere Wesen, so zu behandeln, als wären sie wertlos. Nicht nur Individuen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes sind von der Derealisation betroffen. Wir lassen ganze Bevölkerungsgruppen im Elend ausharren, flirten mit einem Atomkrieg und zerstören die ökologische Grundlage der Zivilisation, als wären die Konsequenzen nicht echt.
Was ist die Ursache der Derealisation? Das Ersetzen von Analogem durch Digitales und von Physischem durch Virtuelles, das sich in den letzten zwei Generationen vollzogen hat, hat dabei sicherlich eine Rolle gespielt, aber ihr Ursprung hat viel tiefere Wurzeln. Der Aufschrei von J. D. Salinger und den Beatniks gegen die Oberflächlichkeit des modernen Lebens kam lange vor dem Informationszeitalter. Dasselbe gilt für die „spirituellen“ Lehren, die Dinge sagen wie „Du bist nicht dein Körper“ und „Die Welt ist eine Illusion“. Beide lehnen das Leben und das Geschenk der Inkarnation ab. (Eine wahrere Lehre würde sagen: „Du bist nicht nur dieser Körper.“ Noch wahrer wäre es, zu sagen: „Im Moment bist du sehr wohl dieser Körper.“) Weltabgewandte Lehren setzen sich auch mit der Derealisation auseinander, sind aber nicht ihre primären Auslöser.
Kommen wir zurück zu Le Guin, um dieses Thema weiter zu beleuchten. Ged erzählt Arren davon, was in der Welt schiefgelaufen ist: eine „Störung des Gleichgewichts.“ Arren fragt, wie es dazu gekommen sei. Ged antwortet: „Durch einen grenzenlosen Durst nach dem Leben.“
„Zu leben? Aber es ist nicht falsch, leben zu wollen?“
„Nein. Aber wenn wir einen Willen zur Macht in uns verspüren, der über das Leben triumphieren möchte – wenn wir grenzenlosen Reichtum, uneingeschränkte Sicherheit, Unsterblichkeit erstreben – dann wird der Wunsch zur Gier. Und wenn sich Wissen zu dieser Gier gesellt, dann kommt das Unheil, das Böse. Dann wird das Gleichgewicht der Welt gestört, und der Ruin drückt die Waage nach unten.“
Macht über das Leben. Endloser Reichtum. Unerschütterliche Sicherheit. Was für eine gute Beschreibung der Prioritäten der USA meiner Lebenszeit, die sich in einer universellen Dominanz und umfassenden Staatssicherheit, einer Explosion an (finanziellem) Reichtum, Lockdowns, Terrorismusbekämpfung, dem Einzug von „Haftbarkeit“ in jeden Winkel des öffentlichen Lebens und der Entfernung aller spaßigen Spielgeräte vom Spielplatz zeigt. Die Schließung aller Spielplätze mit Absperrband durch die Polizei während der Pandemie war eigentlich nichts Neues, sondern lediglich die logische Folge einer langen Entwicklung.
Ein ruinierter Zauberer erklärt, welchen Preis man dafür zahlen musste, den Tod zu bezwingen: „Womit kannst du Leben kaufen? Mit Leben.“ Sein Zustand ist gleichermaßen erbärmlich wie verachtenswert. Er ist verunstaltet, verdreckt und in Lumpen; er ist süchtig nach einer schlimmen Droge, mit deren Hilfe er der Welt entflieht. Er führt vor, was wir in unserer eigenen Gesellschaft sehen: dass man mit dem Streben nach Macht über den Tod nur sein ironisches Gegenteil erreicht: den Verfall des Lebens.
Wie ich in meinem vorherigen Essay sagte:
„Safety first“ schrumpft den Horizont der Möglichkeiten. Was als Vorsicht beginnt, wird zu Bequemlichkeit, dann zu Gewohnheit, und schließlich zum Gefängnis. Der Gefangene trägt den Schlüssel in seiner Gesäßtasche und findet Trost in seiner vorgetäuschten Hilflosigkeit. Ich möchte dich nicht belehren, sondern ich spreche aus eigener Erfahrung. Man fühlt sich immer weniger lebendig. Wofür leben, wenn ich in den Mauern meiner Festung festsitze und wehmütig aus dem Fenster auf eine üppige, aber weit entfernte Landschaft blicke?
Die „Erdsee“-Reihe ist vielleicht die überzeugendste und metaphysisch befriedigendste Beschreibung von Magie in einem Fantasyroman, wenngleich sie Tolkiens Auffassung von Magie als Funktion von Stimme, Liedern und Worten nahekommt. Für Le Guin, die das Wort Magie selten benutzte (und stattdessen lieber von Zauberei oder Magiern sprach), geht es bei Magie um den wahren Namen der Dinge. Während die Magie durch den Riss in der Welt entfleucht, vergessen Zauberer die Namen, vergessen Sänger die Lieder, vergessen Handwerker ihr Handwerk, verliert das Leben seinen Glanz, und alle gehen durch eine existentielle Krise. Auch hier liegt eine Parallele zu unserer Gesellschaft. Ich habe gerade gelesen, dass sie in China dabei sind, ihren ersten Hyperloop in Betrieb zu nehmen, einen Magnetschwebezug zwischen Hangzhou und Shanghai, der mit 1000 km/h fährt. So ein Projekt scheint in Amerika heutzutage unmöglich. Was bedeutet Zauberei in der realen Welt? Es bedeutet, etwas geschehen zu lassen, das außerhalb einer existierenden, trägen Laufbahn liegt. Es bedeutet, etwas Neues in die Welt zu bringen. Es bedeutet Technologie. Es bedeutet, unsere kreativen Kräfte dafür zu nutzen, die Realität zu verändern. Und obwohl sich die Technologie im Westen bestimmt weiterentwickelt, ist sie scheinbar nicht in der Lage, irgendetwas wirklich Nennenswertes zu erreichen, jedenfalls nichts von der Größenordnung der uns plagenden Probleme. Unsere Magie funktioniert nicht mehr.
Solche Mächte können natürlich für gute und böse Zwecke eingesetzt werden. Ged spricht von der Notwendigkeit, die Zauberkräfte mit Zurückhaltung zu verwenden, schließlich kann ihr mutwilliger Gebrauch die Balance zum Kippen bringen. Rufst du den Wind magisch herbei, so ändert das alle Winde, überall. Jede Handlung hat Konsequenzen. Le Guin lässt Ged sagen:
Die Winde und die Meere, das Wasser, die Erde und das Licht, all die Mächte und alles, was Tiere und Pflanzen tun, ist richtig und gut. Sie alle handeln, ohne das Gleichgewicht zu stören. Ein Orkan, das Blasen eines Riesenwals, der Fall eines dürren Blattes, der Flug einer Mücke, all dies ist Teil eines Ganzen und all dies trägt zum Gleichgewicht bei. Wir aber, wir haben begrenzte Macht über uns selbst, und wir müssen lernen, was Blatt, Fisch und Wind instinktiv richtig tun. Wir müssen lernen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Da uns Verstand gegeben wurde, dürfen wir nicht handeln, als ob wir keinen hätten. Da uns eine Wahl gegeben ist, dürfen wir nicht unverantwortlich handeln.
Sie spricht hier natürlich von dem verantwortungsvollen Gebrauch der realen menschlichen Zauberei, nämlich der Mächte der Wissenschaft und Technologie. Bei der Frage des Gleichgewichts stimme ich vielleicht nicht mit ihr überein – ich würde eher sagen, dass wir eine Verantwortung für die beständige Belebung der Schöpfung haben, dass wir der beständigen Entfaltung des Lebens und der Schönheit im Kosmos verschrieben sein müssen. Darin gibt es ein Gleichgewicht, aber auch Veränderung und kontinuierliches Werden. Und doch haben wir Technologie so oft nicht zur Entfaltung, sondern zur Kontrolle des Lebens verwendet; um es zu vereinfachen, zu unterjochen, auszubeuten und auszunehmen. Ged sagt dem gefallenen Zauberer Cob:
“Die Sonne, die Sterne, die grüne Erde hast du verkauft, um dein armseliges Selbst zu retten. Doch du hast kein Selbst. Du hast alles hergegeben und nichts dafür bekommen. Und jetzt versuchst du, die Welt an dich zu ziehen, das Licht und das Leben, das du verloren hast, damit du deine Leere füllen kannst. Doch sie wird leer bleiben. Alle Laute dieser Erde, alle Sterne des Himmels können diese Leere nicht füllen!”
Was du verkauft hast, war dein Selbst. Der Wald, in den das verfolgte Wild floh, das war unser Selbst. Die Schwärme von Schwänen, das war unser Selbst. Die vielen Wale, deren Wasserdunst den Horizont verdunkelten, das war unser Selbst. Die ausgestorbenen Seeanemonen in den Gezeitenbecken, das war unser Selbst. Sein ist Beziehung. Existenz bedeutet in Beziehung zu sein. Natürlich bleiben wir leer zurück, wenn wir unsere Beziehungen zerstören. Unsere Familie lebt und stirbt in uns. Das ist offensichtlich, wenn ein geliebter Mensch stirbt – man kann die Leere spüren, die er oder sie zurücklässt. Was die Leere schließlich wieder füllt, sind neue Beziehungen, andere geliebte Menschen, weitere Abhängigkeiten. Wenn wir uns nie mehr darauf einlassen, wieder zu lieben, bleibt der Riss unverhohlen wie eine undichte Stelle, aus der Leben aussickert. Le Guin schreibt: „Es gibt keine Sicherheit und kein Ende. Nur im Schweigen hört man das Wort, nur in der Dunkelheit sieht man die Sterne. Der Tanz wird getanzt, aber darunter ist es hohl, darunter liegt ein Abgrund.“
Leben ist ein schreckliches Risiko. Liebe ist das schrecklichste aller Risiken. Nichts vermag die ultimative Katastrophe abzuwenden: Verlust. Ged sagt: „Der Tod ist furchtbar und muss gefürchtet werden … Und das Leben ist auch furchtbar … und es muss gefürchtet und gepriesen werden.“ Aber die Alternative zu diesem schrecklichen Risiko des Lebens und der Liebe ist noch schlimmer: sich gesondert zu halten und sich nie voll in eine Beziehung zu stürzen; also sich nie voll ins Leben zu stürzen, und damit nie voll zu existieren. Wie Ged Cob so schön sagt: „Du hast den Tod verloren und damit auch das Leben. Du wolltest dein Selbst retten. Dein Selbst! Dein unsterbliches Selbst!“
Das ist der Gipfel der Ironie. Das Selbst, das wir erhalten wollen, ist bereits unsterblich. Es ist allerdings auch sterblich; tatsächlich stirbt es im Minutentakt. Es ist nie dasselbe. Bewusstsein saust durch die Unendlichkeit, jeder Moment einzigartig. Le Guin schreibt: „Und unser Selbst ist unser Himmel und unsere Hölle, es ist unser Menschsein. Es verändert sich, es verschwindet, wie eine Welle auf dem Meer verschwindet. Möchtest du, dass die Wellen und Gezeiten zum Stillstand kommen, damit eine Welle, du, gerettet wirst? Möchtest du die Geschicklichkeit deiner Hände, die Tiefe deiner Gefühle, das Licht des Sonnenauf- und untergangs aufgeben, um eine Sicherheit – eine ewige Sicherheit zu erlangen?”
Ich hoffe, dass dieser Essay nicht nur als „spiritueller“ Text bei dir ankommt. Eigentlich ist es ein politischer Essay. Der Sicherheitswahn, die Herrschaftspläne, die Kontrollmentalität, der Versuch, die Welt im Stillstand zu bewahren, das Ideal ewiger Jugend, die Einteilung der Welt in Kategorien und Eigentum, das Eintauschen verkörperter Sinnlichkeit gegen Daten – all dies hat weitreichende soziale und ökologische Konsequenzen. Sie sind die Tür, durch die Freude, Begeisterung, Kreativität, Leben und Bedeutung aus der Welt entfleuchen. Mach die Tür zu, sage ich zu mir selbst. Mach die Tür zu. Als ich den hypnotischen Fluchtgedanken schließlich den Rücken kehre, schaue ich zum Garten raus. Da ist mein Kind. Tief in seine Gedankenwelt versunken, ein Lied auf den Lippen, tollt es im Gras herum. Und ich bin erfüllt.
Übersetzt von Christoph Peterseil und Vanessa Groß. Die englische Originalfassung ist hier zu finden.
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Ursula K. Le Guin: Das ferne Ufer. Heine Verlag 1979. Die Zitate in diesem Essay sind auch aus dieser Übersetzung entnommen.