Dies ist der zweite Teil der Gesprächsreihe mit Benjamin Life. Er ist recht lang und könnte möglicherweise durch deinen E-Mail-Server abgeschnitten werden. In diesem Fall klicke einfach den Titel an, um den Text online zu lesen.
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Benjamin Life
Der Ausgangspunkt unseres Gespräches war: Wenn wir uns erst einmal in zusammenhängenden „Islands of Sanity“ (Inseln der geistigen Gesundheit) zusammengefunden haben, wie gelingt es uns dann, gesunde Kulturen zu erschaffen, ohne uns dabei intakte, High Context-Kulturen anzueignen, von denen wir, die wir uns als spirituelle Waisenkinder fühlen, lernen? Und wie begegnen wir der echten Trauer um das Fehlen einer intakten Kultur und der Notwendigkeit, eine solche erst zu erschaffen?
Charles Eisenstein
Ich möchte damit beginnen, die Grundannahmen hinter deiner Frage in Frage zu stellen. Dieses Unterfangen, eine Kultur zu erschaffen, setzt voraus, dass Kultur etwas sei, das man absichtlich erschaffen könne. Es setzt einen in den Schöpfersessel, als stünden wir vor einer Leinwand, mit Pinsel und Palette, um etwas nach unserer Vorstellung zu malen. Aber ich denke, dass Kultur viel eher uns erschafft als wir sie.
Es ist nicht so, dass wir uns nicht kreativ in die Kultur einbringen könnten, aber was wir als Individuen und Gemeinschaften erschaffen, ist viel kleiner als Kultur. Es geht in die Kultur ein. Aber unser schöpferischer Spielraum ist nicht so groß. Folglich sind alle unsere Versuche, Kultur zu erschaffen, selbst Aspekte der entstehenden Kultur, innerhalb von ihr, nicht darüberstehend. Und die kulturellen Elemente, die Menschen bewusst zu erschaffen versuchen, können auch in verdrehter oder völlig unvorhergesehener Weise in die tatsächlich entstehende Kultur eingehen. Es ist möglich, dass die Reaktion gegen eine Sache viel mächtiger ist als die Sache selbst, was die Kultur angeht, die in 50 oder 100 Jahren entsteht.
Ich möchte hier nicht einfach Annahmen kritisieren, sondern vielmehr falsche Annahmen aus dem Weg räumen, so dass wir nicht etwas versuchen, das wir eigentlich gar nicht tun können, um unsere Energie auf etwas tatsächlich Sinnvolles zu richten.
Benjamin Life
Ich denke, dieser Impuls entspringt, wenigstens in meinem Fall, diesem Gefühl des Festgefahrenseins. Es gibt diese Standardkultur, der wir Stück für Stück unsere Teilnahme und Zustimmung entziehen und an der wir uns nicht mehr orientieren. Wir verlernen bewusst viele Aspekte dessen, wie diese Kultur uns geformt hat und wie wir miteinander und mit uns selbst in Beziehung gehen. Aber es gibt da auch eine rekonstruktive Bewegung, die versucht, die Welt durch eine neue Geschichte neu zusammenzusetzen. Und das ist eine echt bizarre ontologische Falle, in die wir tappen können. Du versuchst, einer Matrix zu entfliehen und etwas zu erreichen, das erst noch geboren werden muss. Aber wenn du aussteigst, musst du irgendwohin aussteigen. Wie also navigierst du dich durch diesen Prozess, dich tatsächlich in eine kohärente Kultur zu bewegen, die nicht nur eine indigene Kultur in einem neuen Gewand verkauft oder fetischisiert, oder zu einer subtilen Neuaufmachung der Kultur wird, die du verlässt?
Charles Eisenstein
Das, wo wir hineingeboren wurden, was wir als „moderne Kultur“ bezeichnen könnten (manche würden es womöglich nicht einmal als Kultur bezeichnen), ist ganz sicher ein Übergangspunkt. Die Mythen dieser Kultur wirken unglaubwürdig. Sie haben ihre Überzeugungskraft verloren. Und wir haben angefangen, aus ihnen herauszutreten und sie als Täuschung, als Ideologien, als Geschichten und Mythen anzusehen, anstatt einfach als die Realität.
Unterdessen erkennen wir ihren Bankrott, ihre Zerstörungskraft – folglich ist es unser natürlicher Impuls, sie durch bessere Geschichten zu ersetzen. Aber bereits dieser bewusste Versuch basiert auf impliziten Geschichten, die hinfällig geworden sind.
Es läuft nicht so, dass wir an einem Punkt plötzlich entscheiden, dass die Geschichte von der Erschaffung der Welt durch Gott für uns nicht mehr stimmig ist und wir uns eine neue Geschichte ausdenken: „Hey, wie wäre es mit Atomen und dem Nichts, und Kräften wie der Schwerkraft? Was denkst du, Benjamin? Lass uns eine gute Geschichte erfinden. Oder vielleicht wäre etwas anderes besser. Aber passen wir auf, dass es keine kulturelle Aneignung ist.“ Eine Mythologie wird nicht so erschaffen. So bewusst läuft das nicht ab.
Heute ist es so, dass neue Geschichten, neue Mythologien, neue Ideologien sich an uns heranschleichen. Wir erkennen sie nicht einmal, weil sie so umfassend sind. Eine davon ist vielleicht die Geschichte, dass wir neue Geschichten erfinden müssen. Eine andere ist vielleicht der ganze Diskurs um kulturelle Aneignung. Es sind die Dinge, die unanfechtbar zu sein scheinen, die die Basis einer neuen Kultur bilden. Sie wirken wie die Realität selbst. Und dasselbe gilt für Rituale.
Wir haben gesehen, wie unecht die Rituale wirken, die wir geerbt haben. Sie wirken leer. Also wollen wir neue Rituale erschaffen. Aber wie machen wir das? Nun, wir könnten Rituale aus Afrika oder aus Peru oder von den Lakota kopieren. Aber das ist nicht nur respektlos, es ist auch sinnlos. Du kannst nichts aus seinem geographischen und linguistischen Kontext herausnehmen und einfach woanders einsetzen, denn dann wird es lediglich zu einem „Ritual“ in Anführungszeichen.
In meinen Zwanzigern verbrachte ich Zeit in Taiwan, wo ich Zeuge von echten Ritualen, von gelebtem Taoismus, von gelebten taoistischen Ritualen wurde. Die Menschen sagten nicht: „Okay, wir machen jetzt ein Ritual.“ Was sie machten, war Teil einer ganzen Weltsicht, einer klaren Vorstellung von „Wir müssen diese Feuerwerke entzünden, sonst werden die Geister unser neues Geschäft übernehmen. Wir müssen die Tempelgötter durch die Straßen tragen, damit wir Glück erlangen“ Es war von einer ebensolchen Ernsthaftigkeit geprägt, mit der Menschen heute das Ritual des Händewaschens praktizieren, um sich vor unsichtbaren Geistwesen zu schützen, die sie Viren nennen. Die Menschen in unserer Gesellschaft sehen das nicht als Ritual, weil es in ihrer Realität sinnvoll erscheint.
Folglich ist alles, was wir als Ritual ansehen, jeder Versuch eines Rituals für unsere Zusammenkunft, jede Idee, die vier Himmelsrichtungen anzurufen – aber auf eine Art, die nicht kulturell aneignend ist –, alles das, was unserer Auffassung nach in die Kategorie Ritual passt, bereits kein authentisches Ritual mehr. Rituale sind eine Folge von symbolischen Handlungen, die sich wirklicher anfühlen als andere Handlungen. Sie fühlen sich wirklicher an, nicht weniger wirklich. Und das bedeutet, sie müssen Teil eines umfangreichen Realitätszusammenhangs sein. Sie sollten Teil einer ganzen Weltsicht sein.
Und so finden wir uns in einer Zeit wieder, in der wir das Vertrauen in das verlieren, was wir für wirklich hielten, in die Bedeutungen, die wir der Welt gaben. Wir verlieren den Glauben an unsere Geschichten. Endlich erkennen wir: „Oh, das waren einfach nur Geschichten, sie haben nicht wirklich funktioniert. Wir wuschen bloß unsere Hände, um uns selbst zu beruhigen. Wir unterschrieben diese Dokumente, um uns sicher zu fühlen.“ Das ist noch so ein Ritual, das allmählich seinen Sinn verliert. Es war einmal eine Sache von großer Wirkkraft, sein heiliges Zeichen unter eine Vereinbarung zu setzen. Und jetzt klicken wir jeden Tag mehrfach „Ich stimme zu.“ Es ist immer offensichtlicher zu einem Ritual geworden. Und das bedeutet, dass das gesamte Rechtssystem, das auch eine Art magisches System ist, ebenfalls seine Wirkkraft verliert. Und um auf deine Frage zurückzukommen, was werden wir tun? Es ist nicht die richtige Frage: Was werden wir tun, um das zu ersetzen? Als könnten wir uns etwas ausdenken und uns anschließend dazu bringen, daran zu glauben.
Um wirklich eine neue Kultur zu entwickeln, müssen wir die veralteten Überzeugungen ablegen und sehen, was übrigbleibt. Und wir entdecken die Überzeugungen, die wir nicht als Überzeugungen ansehen, sondern als Realität; die neuen Vorstellungen, die wir haben und die neuen Arten, Dingen einen Sinn zu geben, die sich für uns natürlich anfühlen. Es ist das Gefühl, zu Hause zu sein. Und ich würde sagen, das ist die Essenz von Kultur: das Gefühl, zu Hause sein. Du hast von Waisenkindern gesprochen, von spirituellen Waisenkindern. Wir fühlen uns in den Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind, nicht mehr zu Hause. Wir fühlen uns in den Ersatzhandlungen und Nachahmungen, die wir aus anderen Kulturen importiert haben, nicht zu Hause. Also: Wie auch immer die neue Kultur aussieht, sie ist nicht etwas, das wir uns ausdenken. Dann wäre es schon falsch, dann wäre es keine Kultur mehr. Du hättest es dir halt ausgedacht. Es wäre nicht die Realität selbst. Eine neue Kultur entsteht, wenn wir ehrlich zu uns selbst werden und uns auf das einlassen, was mit dem resoniert, wer wir werden, wenn wir den Seinszustand verlassen, der der alten Kultur entspricht. So entsteht die neue Kultur. Ergibt das einen Sinn?
Benjamin Life
Ja, das tut es. Allerdings bekräftigt es für mich lediglich, wie schwer das umzusetzen ist, wenn die Mittel zur Dekonstruktion der Geschichten, mit denen wir nicht länger in Resonanz gehen, dieselben Mittel sind, mit denen wir dann versuchen neue Geschichten zu erschaffen. Aber dann haben wir bereits eine Abstraktion der Idee der Geschichte geschaffen. Es wird also immer diese ironische Distanz zwischen uns und der neuen Geschichte geben, die wir erschaffen. Und dann inszenieren wir eine Aufführung des Rituals, eine Aufführung der neuen Kultur, anstatt sie tatsächlich durchzuführen und zu leben. Aber es scheint unausweichlich zu sein, einige Aspekte dieses Prozesses durchlaufen zu müssen. Und es fühlt sich wie eine Art Reifepunkt an, einen Ort erreicht zu haben, an dem die Dekonstruktion so umfassend erfolgt ist, dass wir jetzt feststellen, dass nicht einmal die Mittel, die wir nutzen, um uns von dieser Kultur zu befreien, ausreichen, um wirklich eine neue entstehen zu lassen.
Charles Eisenstein
Die Dekonstruktion muss einen Punkt erreichen, an dem wir anfangen Dinge zu sehen, die wir sonst nicht sehen könnten. Und wenn sie uns als wirklich erscheinen, können sie Teil einer neuen Kultur werden. Das erinnert mich an eine wunderbare Rede des Dichters David White. Er ist ein begnadeter Redner. Und er sprach von diesem schottischen Fischer, diesem Typen, der auf einer abgelegenen Insel vor Schottland lebte, wo die Zeiten sich nicht so sehr geändert hatten. Und das war vor vielen, vielen Jahren. Er lebte also in einer anderen Welt. Und sein ganzer Tag war mit kleinen Gebeten durchsetzt. Es gab ein Gebet zum Aufstehen am Morgen, ein Gebet zum ersten Öffnen der Tür, ein Gebet zum Fensteröffnen, zum Überschreiten der Schwelle, zum Einstieg ins Boot. Es gab ein Gebet zum Brechen des Brotes. Jede wichtige Handlung des Tages wurde von einem Gebet begleitet. Und ganz sicher kam das nicht aus einem Gefühl von „Die Wirklichkeit ist so bedeutungslos geworden, dass wir Rituale und Gebete brauchen, um dem Leben wieder Bedeutung zu geben“. Er war tatsächlich in Verbindung mit allen möglichen Geistern, mit Wesen, die für ihn real wahren. Natürlich redest du mit ihnen, wenn sie für dich echt sind. Wenn du siehst, dass sie Macht und Einfluss auf dein Leben haben – wie, wenn du einen Regenschirm rausholst, wenn es regnet –, dann tust du Dinge, die die Beziehung in Harmonie halten. Ich denke also, dass Anzeichen für diese neuen Wahrnehmungen und Beziehungen schon lange in der Luft lagen. Aber mit der Desintegration der ererbten Realität oder Geschichte werden sie jetzt normalisiert.
Das erste Beispiel, das mir in den Sinn kommt, ist die Welt der alternativen Medizin. Noch vor dreißig Jahren wurde den Geschichten dieser Welt mit Unglauben begegnet. Den Menschen fiel es schwer, daran zu glauben. Auch ich hatte Schwierigkeiten sie zu glauben, obwohl ich verzweifelt daran glauben wollte. Doch ein Teil von mir glaubte immer noch, dass es nicht wahr sein konnte. inzwischen aber haben diese Geschichten genügend Gewicht bekommen, dass wir mehr oder weniger vollständig in dieser Realität leben können. Und die Realität der modernen Medizin und der Krankenhäuser beginnt ein wenig zu verblassen. So lebe ich mein Leben. Es ist noch immer eine Welt im Aufbau, aber ich gehe einfach nicht zu konventionellen Ärzten. Meine erste, zweite und dritte Reaktion auf jede körperliche Beschwerde sind Chiropraktiker, Energieheiler, Kräuterkundige usw. Die Begriffe, das konzeptuelle Vokabular dieser Ansammlung nebeneinanderstehender Realitäten bildet etwas, das von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet vielleicht nach Ritualen aussieht. Ich nehme immer noch diese Pillen und lege sie in meinen Mund. Es ist offensichtlich ein Ritual, diese magischen Pillen zu nehmen, im Aberglauben, dass es dadurch meinen Zähnen besser gehen wird oder ich mehr Energie erlange oder was auch immer. Es ist ausgemachter Aberglaube. Ein Teil von mir erkennt das. Aber ein anderer Teil von mir sagt: „Diese beiden Kräuter werden in der tibetischen Medizin traditionell angewandt, um… und diese Extrakte aus Rinderhoden werden…“ Was für Nahrungsergänzungsmittel ich auch immer nutze, ich habe meine Gründe zu glauben, dass sie wirken. Also ist es für mich nicht bloß ein Ritual.
Und noch was. Menschen kommen zusammen, um dem kulturellen Vakuum zu begegnen, das durch den Zusammenbruch der modernen Welt entstanden ist, und sehnen sich danach, wieder nach Hause zu finden. Also versuchen sie, Rituale und Zeremonien zu erschaffen, die sich – in gewisser Weise – nicht allzu wirklich anfühlen. Meistens spürst du dann im Nachhinein, dass diese Erfahrung überhaupt nicht in Verbindung zum Rest des Lebens steht. Aber ich will solche Dinge gar nicht verteufeln.
Einerseits sind sie ein Hilferuf. Sie sind ein Ruf nach einem Zuhause, und unser Zuhause wird uns als Antwort auf diesen Ruf die Hand reichen. Unser Zuhause wird uns ebenso finden, wie wir nach Hause finden. Und du kannst diese Zusammenkünfte aus einem anderen Blickwinkel betrachten und sie als einen Haufen Menschen sehen, die einander Geschichten davon erzählen, wie Gemeinschaft geht. Auf diese Weise sind die Unwirklichkeit dieser Rituale und das Geschichtenerzählen selbst Teil des Entstehens einer Kultur.
Menschen haben schon deutlich seltsamere Dinge getan als das, deutlich seltsamere Dinge, als sich zu Ritualen zu versammeln, an die sie nicht wirklich glauben. Es scheint fast so zu sein, dass der Akt der Schaffung eines Rituals das Ritual selbst ist. Der Versuch, ein Ritual durchzuführen, ist bereits das Ritual.
Benjamin Life
Dass wir neue Rituale brauchen, ist eine Geschichte. Da ist so ein ganz zartes, unschuldiges und flüchtiges Greifen nach einer neuen Kultur, und das, obwohl es gar nicht das ist, wonach wir suchen. Es fühlt sich nach etwas Konstruiertem an. Und doch fühle ich, dass es sich lohnt, selbst wenn es nicht das ist, was es versucht zu sein; es lohnt sich, weil es eine Öffnung gibt, eine Art Protokultur oder den Samen einer Geschichte, an die wir noch nicht so ganz glauben.
Charles Eisenstein
Auf eine Art sind alle diese Versuche, die nächste Kultur zu gestalten, sehr stark Teil der alten Kultur.
Die Idee, eine Kultur zu gestalten: Welche Menschen – abgesehen von den modernen Menschen – haben noch so gedacht?
Ich meine, Plato, ja. Aber er ist der Vordenker der Moderne, der davon sprach, wie man eine Gesellschaft gestalten könne.
Es ist die Idee, dass die Realität gestaltet werden kann. Wir können Dinge innerhalb der Realität gestalten. Natürlich gestalten wir ständig. Gestaltung ist nicht nur ein stupides Konzept. Aber die Idee, dass unserem Gestalten keine Grenzen gesetzt sind, dass alles unter den Schirm der Gestaltung gebracht werden kann, und dass dies der Inbegriff menschlichen Fortschritts sein soll, ist einer der Mythen, die die Moderne definieren. Es ist der Mythos der Eroberung. Und wenn wir diese Geisteshaltung auf den spirituellen oder kulturellen Bereich ausdehnen, ist das eine Erweiterung des Mythos, nicht seine Überwindung. Es ist mehr von demselben. Und viele Menschen verstehen das und sagen: „Okay, wir lassen die Emergenz mit hineinspielen, wir lassen das Wilde mit hineinspielen.“ Irgendwann kommt ein Punkt, ein Übergangspunkt, eine Übergangsphase, wo du nicht länger versuchst, das Wilde zurückzuhalten oder das, was von selbst entstehen mag, an seiner Entstehung zu hindern. „Okay, jetzt machen wir zwei Stunden lang ‚Open Space‘. Und dann kommen wir zu unserem Programm zurück.“ Aber wenn das Wilde sich breit macht, verlierst du die Kontrolle.
Wenn du versuchst, das Wilde zu planen, nimmt es einen performativen Aspekt an. Das ist per se nichts Schlechtes, schätze ich, aber an irgendeinem Punkt müssen wir uns der Intelligenz unterordnen, die tatsächlich Dinge gestaltet.
Benjamin Life
Was du gerade gesagt hast, kam bei mir erst mit diesem letzten Satz so richtig an. Denn jedes indigene Ritual, bei dem ich je dabei war, war stark strukturiert. Und die Struktur war sehr sinnvoll. Ich bin in diese Welten eingetaucht – der Sonnentanz ist da für mich das eindrücklichste Beispiel. Jede Handlung – angefangen von der Prozession bis zum Fällen des Baumes, dem Zurücktragen des Baumes zurück zur Laube durch die Gemeinschaft, der Befestigung der Gebetsbänder durch die Frauen, dem Baumaufstellen und jeder einzelnen Tanzrunde – ist rituell bedeutsam und weitestgehend vorgegeben. Es entsteht eigentlich nichts aus dem Moment heraus, außer vielleicht die endogenen Gebete selbst, die dargebracht werden. Aber die Struktur des Rituals ist sehr intakt und präzise. Und sehr wortgetreu. Jeder rituelle Akt entspricht einem Aspekt der Naturgesetze, der sich durch die Durchführung des Rituals vergegenständlicht. Und hier kommen wir zu dem, was ich ganz am Schluss deiner Ausführungen gehört habe, nämlich dass uns die Wildheit zu einer Struktur führt, die der Realität immanent ist.
Charles Eisenstein
Es war nicht meine Absicht, für Wildheit und Kontrollverlust als wesentliche Zutaten eines jeden Rituals zu argumentieren. Ganz im Gegenteil. Was du sagst, stimmt. Und es stimmt auch für die Rituale, die unsere eigene Kultur uns vermacht hat, die wahren Rituale, wie juristische und medizinische Prozedere, wo, ganz wie du es beschreibst, alles penibel genau einzuhalten ist. Und wenn es nicht so gemacht wird, sind die Geister erzürnt und schreckliche Dinge werden passieren. Ich spreche hier von dem Prozess, in dem neue Rituale Form annehmen. Du kannst sie nicht aus ihrem Kontext herausnehmen und importieren. Genauso wenig kannst du einfach ins Chaos versinken. Aber es muss notwendigerweise einen Moment des wirklichen Chaos geben, nachdem die alten Rituale sich aufgelöst haben. Du kannst dich nicht gleich in die neuen Geschichten, neuen Mythologien und neuen Rituale stürzen. Es muss eine Phase der Unordnung geben. Alle Bedeutungen müssen sich auflösen. Die alte Geschichte muss sterben, bevor die neue geboren werden kann. Und es gibt immer diesen Ort der Latenz, den Raum zwischen den Geschichten.
Benjamin Life
Du nennst das in einem deiner Vorträge den fruchtbaren Boden der Verunsicherung.
Charles Eisenstein
Das stimmt. Wir klammern uns an immer verzweifeltere Versionen der jetzigen Geschichte. Vielleicht klammern wir uns an Geschichten, die wie neue Geschichten scheinen, aber verschleierte Versionen der alten sind. Aber irgendwann müssen wir die Kontrolle loslassen. Und das ist jetzt kein allgemeines Prinzip für das Entwerfen von Ritualen. Es ist ein Grundprinzip für den Übergang zwischen Mythologien.
Benjamin Life
Hast du schon einmal gesehen, wie das gelungen ist? Hast du schon einmal eine Erfahrung gemacht, wo du das Gefühl hattest, dass genau das passiert ist?
Charles Eisenstein
Es passiert trotz deiner Bemühungen es richtig zu machen. Es ist nichts, das wir tun können. Es widerfährt uns. Und unser einziges Tun liegt in diesem Moment der Erkenntnis und der Hingabe. Ich gebe mich dem Nichtwissen hin. Aber daraus ein Patentrezept machen zu wollen, würde es verfälschen. Im Grunde sind unsere verzweifelten Versuche, uns so lange wie möglich an etwas zu klammern, selbst ein wesentlicher Teil des Prozesses. Dementsprechend sind unsere Versuche, herauszufinden "wie wir das schaffen können" selbst Teil des Festklammerns.
Du musst die Frage loslassen. Wie soll das gehen? Woher kommt dieses „Wie“? Warum fragen wir nach dem „Wie“? Was sollen wir tun? In dieser Frage steckt der Hauch eines Vertrauensmangels. Wir müssen nicht wissen, wie.
Und darin liegt ein Paradox: Es hilft uns zu wissen, dass wir das „Wie“ nicht kennen müssen. Das ist Teil des „Wie“. Wie können wir den Prozess unterstützen? Indem wir wissen, dass wir nicht wissen müssen, wie.
Das Leben weiß, was zu tun ist. Alles, was wir vielleicht als Fehler einordnen, und die vielen nutzlosen Versuche, eine neue Kultur zu schaffen, das alles sind in Wirklichkeit keine Fehler. Die Fehler sind keine Fehler. Unsere wohlgemeinten Handlungen werden nicht erreichen, was sie zu erreichen versuchen. Doch sie sind Teil der Bewegung hin zu dem, wonach wir uns sehnen, nach dem wir rufen, das zu uns kommt, sich durch uns hindurchbewegt und bei dem wir nicht wissen, wie wir es erreichen können. Ich frage mich, ob das Ganze hier für einen Substack-Beitrag nicht viel zu abstrakt ist? Wir sind hier gerade sehr mystisch unterwegs.
Benjamin Life
Ich finde es erhellend. Ich halte es für nützlich, selbst wenn es nur für mich nützlich sein sollte. Ich schätze es jedenfalls wirklich sehr, weil es etwas ist, das ich definitiv öfter hören sollte.
Charles Eisenstein
Ja, wir machen es uns selbst ein bisschen zu schwer. Ich glaube, dass wir es uns ganz allgemein in diesem Übergangsprozess zu schwer machen. Es ist wie bei der Geburt eines Babys. Stell dir vor, du bist ein Baby, das geboren wird. „Okay, was muss ich tun?“ Ein ungeheurer Prozess ist im Gange, du wirst aus der Gebärmutter ausgestoßen, deine ganze Welt fällt auseinander, du wirst gedrückt und gezogen und gequetscht. „Was ist hier los? Sag mir, was soll ich tun? Wie kann ich das schaffen? Was muss ich tun, damit es funktioniert? Ich darf nicht einfach nur reagieren, richtig? Ich muss etwas tun.“
Aus dem Blickwinkel des Kindes könnte es so aussehen, als würde es etwas schaffen. Tatsächlich macht aber die Mutter fast die ganze Arbeit. Allerdings sind die Reaktionen des Kindes auch Teil des Geburtsprozesses. Aber das Kind muss nicht wissen, was zu tun ist. Wäre es allerdings eine Totgeburt, dann wäre die Geburt um Einiges schwerer. Die Lebendigkeit des Babys, das geboren wird, ist dem Geburtsprozess dienlich. Und dasselbe gilt für unsere Lebendigkeit. All unsere gequälten, verzweifelten und hoffnungsschwangeren Versuche, Rituale und Mythen zu kreieren, werden vergeblich sein. Sie kreieren nicht die echten Rituale und die echten Mythen, in denen wir leben werden. Aber sie sind Teil der Erschaffung dieser Rituale und Mythen, in denen wir leben werden.
Benjamin Life
Vielleicht entspricht unsere Erfahrung der Sehnsucht nach einer neuen Kultur der Erfahrung von Geburtswehen. Ich glaube, so würde es sich auf die Metapher beziehen. Weil es sich so körperlich anfühlt. Ich spüre den körperlichen Wunsch, eine Kultur zu erleben, die anders ist als die, die wir haben.
Charles Eisenstein
Die Wehen sind die Entfremdung, die Wut, der Verrat und der Kummer darüber, in eine Welt hineingeboren worden zu sein, in der wir uns nicht zuhause fühlen. All das ist Teil davon, wie unsere Lebendigkeit auf diese Welt antwortet. Die Entfremdung und das Streben, die Verzweiflung und die Hoffnung, die Wut und die Trauer, aber auch diese Momente, in denen sich Freude offenbart, wenn du tatsächlich ein Stück der Heimat erlebst, nach der du dich gesehnt hast: All das sind die Wehen und die Bewegungen des Babys bei der Geburt. Und dann multipliziere das mit Millionen und Abermillionen von Menschen. Früher oder später kommen die Momente, wo es so intensiv wird, dass wir einfach nur um unser Überleben ringen. Die Leute ringen. Die Summe all dieses Ringens wird eine neue Kultur erschaffen.
Benjamin Life
Im Taoismus gibt es das nicht-duale und paradoxe Konzept von „wuwei“. Es bedeutet im Grunde „Handlung ohne Absicht“. Das Konzept von Handlung ist für mich so schwer von der Absicht zu trennen. Mir scheint, ich müsse meinen Willen ausrichten, um etwas zu tun. Aber in einer unbeabsichtigten Handlung zu sein, – das kommt nicht aus demselben inneren Ort. Sie kommt nicht aus dem ego-identifizierten Wunsch, die Welt irgendeiner geistigen Vorstellung entsprechend zu verändern. Es ist eher so, dass man dem Weg des Tao erlaubt, auf die eigenen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten Einfluss zu nehmen. Ich versuche hier ein scheinbares Paradox aufzulösen. Wenn wir nur das Baby sind, das durch die Kontraktionen gepresst wird, worin besteht dann unsere Wahlmöglichkeit? Und worin liegt in diesem Handlungsrahmen unser Spielraum?
Charles Eisenstein
Unsere Reaktion auf den physischen und psychischen Druck, die auf uns lasten, hängt davon ab, was wir uns zu fühlen erlauben. In anderen Worten: worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Hier liegt unser Entscheidungsspielraum. Wenn du die Welt und bestimmte Zustände in der Welt ignorieren, wenn du sie ausblenden kannst, dann wird deine natürliche Reaktion, die Reaktion deines Körpers, anders sein. Es kommt darauf an, worauf du deine Aufmerksamkeit richtest. Am Ende ist das die einzige Wahl, die wir haben.
Du wirst ein vollkommen anderes Leben führen, wenn es dir möglich ist, der ökologischen Zerstörung und dem sozialen Verfall in der Welt keine Aufmerksamkeit zu schenken. Aber am Ende wird dieses Verdrängen immer schlimmere Schmerzen verursachen. Das Leben wird sich unecht anfühlen. Es wird sich anfühlen, als wärst du nicht du selbst. Es wird sich immer mehr so anfühlen, als würdest du das Leben eines Fremden leben. Du kannst dich mit verschiedenen Stimulanzien davon ablenken, mit süchtig machenden Aufputschmitteln oder mit Beruhigungsmitteln, mit allem, was dich von dem ablenkt, was wirklich gerade nach deiner Aufmerksamkeit verlangt. Du kannst unendlich lange so weitermachen, bis du die Entscheidung triffst, die immer schon unausweichlich war. Die Entscheidung besteht darin, deine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was immer lauter deine Aufmerksamkeit einfordert.
Es ist ein Paradox. Die Zeitspanne vor der unausweichlichen Entscheidung kann unendlich lang sein. Wie kann sie unausweichlich sein, wenn die Zeit davor unendlich lang sein kann? Das ist das Paradox. Aber es wird immer anstrengender, sich selbst zu verleugnen. Der Schmerz wird größer und größer. Und daher wird es notwendig, sich immer stärker zu verleugnen. Das nennt man Hölle. Aus ihr gibt es keinen Ausweg, jedenfalls nicht innerhalb ihrer eigenen Spielregeln. Die Befreiung aus der Hölle ist das, wovon ich zuvor gesprochen habe. Da ist dieser Schritt ins Chaos, ins Nichtwissen. Der Ausweg aus der Hölle ist immer ein Schritt ins Nichtwissen, eine Freigabe der Kontrolle.
Stell dir vor, du würdest den Schritt von einem Felsvorsprung hinab tun und nicht wissen, ob der Boden 20 Zentimeter oder 200 Meter unter dir ist. Wenn du dann im Wasser landest, wird dir klar, dass eigentlich nie eine Gefahr bestanden hat. Aber das kannst du im Vorhinein nicht wissen. Es ist tatsächlich notwendig, dass es gefährlich scheint, bevor du den Schritt ins Unbekannte gehst. Und auf eine Art ist es gefährlich, denn die unbekannte Welt entspricht einem unbekannten Teil deiner Selbst. In anderen Worten: Du wirst dich verändern. Veränderung ist eine Form von Tod. Es ist ein Loslassen. Du hast die Wahl, wann du bereit bist, loszulassen. Und du wirst nicht dafür bestraft werden, dass du länger oder kürzer festhältst als irgendjemand vielleicht für richtig hält. Die Welt ist kein Test. Deine Macht, durch deine Aufmerksamkeit schöpferisch zu sein, ist grenzenlos. Es ist eine Wahl, eine schlichte Wahl: Wer soll ich werden?
Benjamin Life
Glaubst du nicht, dass der Kollaps der Biosphäre gewissermaßen ein Test ist? Er testet die Grenzen davon, wie lange die Verleugnung da sein kann, bevor die Zerstörung ein Maß erreicht, das wir noch nie erlebt haben.
Charles Eisenstein
Nein. Wenn das der Fall wäre, dann hätten wir uns schon verändert. Wir sind bereits inmitten einer Zerstörung von nie dagewesenem Ausmaß. Und wir haben uns schlicht daran gewöhnt.
Ich erinnere mich daran, wie viele Schmetterlinge da waren, als ich ein Kind war. Heute gibt es viel, viel weniger.
An vielen Orten beträgt die Insektenpopulation 10 % oder 20 % von einstmals, und dasselbe gilt für viele Tiere und Pflanzen. Also, wie groß muss der Kollaps der Biosphäre deiner Meinung nach sein? Sind 80 % nicht genug? Und wenn es nicht genug ist, warum glaubst du dann, dass ein Rückgang um weitere 80 %, oder nochmal 80 % danach, dann genug sein werden? Ich kann mir eine Zukunft vorstellen, in der alle total daran gewöhnt sind, die ganze Zeit in klimatisierter Luft zu sein. Das gibt es auch jetzt schon. Stell dir vor, man hätte dir vor 100 Jahren gesagt, dass wir eine Zukunft erschaffen, in der du für 4 oder 5 Monate im Jahr nicht länger rausgehen kannst als für eine Minute. Hättest du dich damit abfinden können? Also nein, die Wahl wird uns nie genommen werden. Wir werden immer die Wahl haben, dem Ruf des Lebens und seinem Wunsch zu leben unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Erlauben wir uns das zu fühlen? Lassen wir den Schmerz, den das Leben bei seiner Beschneidung spürt, in uns hinein? Und die Freude, die es im Moment seiner Erfüllung spürt?
Denn wenn wir das tun, wenn wir darauf achten, dann werden sich die natürlichen Entscheidungen, die natürlichen Reaktionen unseres lebendigen Körpers und unserer göttlichen Seele ändern. Du nimmst durch die Kraft der Aufmerksamkeit neue Informationen auf, und das verändert dich und was du automatisch wählst. Das ist also die Antwort auf die Frage nach dem Wie, falls es denn wirklich ein Wie geben sollte.
Zu versuchen, nur mittels Willenskraft ein besserer Mensch zu werden, ohne seine Aufmerksamkeit anders auszurichten, wird nicht klappen. Denn dann fehlt der Willenskraft ihr Motor, der Motor der Wahrheit. Wenn du etwas aufnimmst, ist Aufmerksamkeit der Prozess, durch den du das Andere in das Selbst integrierst.
Wenn ich jetzt gerade mit meiner Aufmerksamkeit bei dir bin, dann dringt etwas von dir in mich ein. Und fortan wird meine Navigation durch die Welt, meine Antwort auf die Welt, etwas von dir beinhalten, das in mich eingedrungen ist. Es ist also ein Akt der Selbsterschaffung, einem anderen Wesen Aufmerksamkeit zu schenken. Normalerweise ist der Einfluss fast unmerklich. Aber verbringe auch nur einen Tag ohne Bildschirme, ohne rechte Winkel, in der Natur, und schenke ihr wirklich deine Aufmerksamkeit, ohne mit deinem Walkman oder iPod oder wie es heute heißt Musik zu hören. Einfach nur gehen. Dich nicht mit deinen eigenen Gedanken unterhalten, sondern wirklich präsent sein. Dann wirst du zu dem, dem du deine Aufmerksamkeit schenkst. Mir passiert das, wenn ich Beeren pflücke. Denn dabei bin ich wirklich aufmerksam, und dann, eine Stunde später, schließe ich meine Augen und ich sehe den Beerenstrauch. Ohne jegliche Anstrengung der Visualisierung hat er sich mir einfach eingeprägt. Das ist ein Akt der Selbsterschaffung. Wenn du der richtigen Sache Aufmerksamkeit schenkst, dann kann es als Medizin in deinen Körper dringen. Es gibt ganze technologische Richtungen, die dieses Prinzip nutzen. Wenn du dem richtigen Mandala, der richtigen Pflanze, dem richtigen Kraut, dem richtigen Bild Aufmerksamkeit schenkst, verändert es dich. Denn worauf du deine Aufmerksamkeit richtest, das wird zu dir. Etwas davon wird zu dir. Und dann wird deine Reaktion in allen möglichen Situationen eine andere sein.
Deshalb fühlen sich neue Rituale echt an und nicht inszeniert: weil sie eine neue Reaktion auf die Welt sind, die auf deinem neuen Wissen basiert. Dadurch erscheinen sie rational. Sie wirken nicht gekünstelt oder inszeniert. Weißt du, wenn du deine Sensibilität und deine Aufmerksamkeit entwickelst und beginnst, überall um dich herum Naturgeister zu sehen, dann wirst du handeln, als wären überall um dich herum Naturgeister. Und du wirst keinen Lakota-Typen brauchen, der kommt und dir erzählt, dass überall Naturgeister sind, und so tun, als würdest du an sie glauben, damit du vor ihm eine gute Figur machst. Das wirst du nicht nötig haben. Und du wirst mit der Zeit genau wissen, was zu tun ist, wenn du dich mit den Wesen anfreundest und dich mehr auf sie einstimmst.
Benjamin Life
Das erinnert mich an Visionssuchen. Es erinnert mich an eine bestimmte Pflanzenkur. Es erinnert mich sogar daran, wie es ist, einfach mit einem Baby Zeit zu verbringen. Es gibt eine Syntax in der Kommunikation, wenn du dem Baby Aufmerksamkeit schenkst. Sie ist komplett präverbal, aber du kannst beobachten, dass das Baby müde ist, dass das Baby hungrig ist, dass das Baby vor den lauten Geräuschen, die es hört, Angst hat. Das Baby muss dir das nicht sagen. Es gibt eine Syntax in der Kommunikation. Allein die durch Aufmerksamkeit geschaffene Beziehung wird diese Syntax in einer vorsprachlichen Kommunikationsform vermitteln.
Charles Eisenstein
Ja, ganz genau. Und sogar wenn ich dir Aufmerksamkeit schenke, kann ich verschiedenen Teilen von dir Aufmerksamkeit schenken. Ich kann auf den Bedeutungsinhalt deiner Worte achten, oder auf deine Stimme. Wenn ich mich auf deine Stimme einlasse, dann lerne ich Dinge über dich und kann dich auf eine Art verstehen, die ich rein aus deinen Worten oder aus deinem Gesichtsausdruck nicht herauslesen könnte.
Die Sehnsucht nach einer neuen Kultur muss auf dieser Ebene landen. Wie ich zuvor gesagt habe, ist es eigentlich eine Sehnsucht nach zuhause.
Und auch wenn es ein bisschen zu sehr nach einer Floskel klingt, dein Zuhause ist in dir.
Wir müssen lernen, unsere Wahrnehmung als wahr anzuerkennen. Zuhause heißt, in dieser Welt hier zu sein. Wirklich in der Welt zu sein, nicht in einem Haufen Konzepten über die Welt, in denen wir uns verirrt haben. Denn wir sind tatsächlich zu Hause. Wir sind physisch hier verkörpert. Wir waren nur oft abgelenkt davon.
Die Macht der Aufmerksamkeit wird schlussendlich die Gemeinschaft wieder aufbauen, das Dorf wieder aufbauen. Momentan sind wir noch so zerstreut. Wir sind gerade so vereinzelt, dass wir wirklich mit den Grundlagen anfangen müssen. Und ich schätze, wenn man von diesem Gespräch irgendetwas mitnehmen kann, dann ist es, die Macht der Aufmerksamkeit wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Und du kannst damit experimentieren, wirklich Verantwortung für diese Macht zu übernehmen. Das nächste Mal, wenn du mit einem anderen Menschen bist, dann probiere aus, was passiert, wenn du der Person deine volle Aufmerksamkeit schenkst. Und experimentiere damit, wo du deine Aufmerksamkeit hinlenkst. Worauf lausche ich eigentlich, wenn die Person spricht? Inwiefern beeinflusse ich durch meine Konzepte von der Person das, was ich von ihr wahrnehme? Und worauf werde ich jetzt als nächstes meine Aufmerksamkeit lenken?
Es geht nicht darum, dass es besser oder schlechter ist, deine Aufmerksamkeit auf den einen oder den anderen Ort zu lenken. Sondern es geht darum, dass es ein kreativer Akt ist. Wenn du dich also nicht zuhause fühlst, dann ist es vielleicht Zeit, deine Aufmerksamkeit woanders hinzulenken.
Übersetzt von Vanessa Groß und Christoph Peterseil, korrekturgelesen von Ingrid Suprayan. Die englische Originalfassung dieses Beitrages ist hier zu finden.
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