Von Massendynamiken, Sekten und Russell Brand
Notiz an meine Leserinnen und Leser: Ich experimentiere für die nächsten paar Wochen oder Monate mit einem neuen Format. Benjamin Life, mein politisch wie auch spirituell scharfsinniger Freund, mit dem ich schon gearbeitet habe, wird eine Reihe von Interviews bzw. Gesprächen mit mir führen und mich alles Mögliche fragen, vom aktuellen Zeitgeschehen bis hin zu esoterisch-philosophischen Themen. Das Ergebnis werden wir transkribieren und leicht überarbeiten. Hier ist eine kurze Episode, die wir vor ein paar Tagen aufgenommen haben. Bald folgt eine weitere.
Benjamin Life:
Vor Kurzem wurden gegen Russel Brand Vorwürfe in Bezug auf sexuelle Übergriffe laut. Auf mich wirkt das, als würde hier der Prozess der Dekonstruktion des Patriachats als Waffe missbraucht werden. Die Art und Weise, in der die alte Geschichte der Getrenntheit die „Me-Too“-Bewegung nutzt, um jemanden zu delegitimieren, der das Establishment offen in Frage stellt, ist in meinen Augen ein sehr einfältiges und leicht zu durchschauendes Ritual. Aber das entspricht dem aktuellen Zeitgeist. Und es gibt Leute, die ihn deswegen sehr schnell verurteilen und ablehnen werden. Wie würdest du das kommentieren, oder welche Erkenntnisse könntest du uns hier geben?
Charles Eisenstein:
Ich persönlich habe es nur am Rande mitgekriegt und mich nicht weiter damit auseinandergesetzt. Ich habe kein Gefühl dazu, wie glaubwürdig die Frauen sind, die hier ausgesagt haben. Es könnte sehr gut sein, dass es ein vorsätzlich geplanter Versuch ist, Russell Brand zu diskreditieren. Es könnte sein, dass die Behauptungen absolut berechtigt und wahr sind. Und dann gibt es viele Interpretationsmöglichkeiten. Aber eines ist sicher: Egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht, sie provozieren jedenfalls einen Mob-Impuls. Niemand will mit dem Menschen in Verbindung gebracht werden, den der Mob – zu Recht oder zu Unrecht – als sein nächstes Fressen auserkoren hat. Und das ist eine unglaublich mächtige Waffe in der gesellschaftlichen und politischen Kultur.
Wenn man jemanden zerstören will, dann deutet man an, dass er verachtenswert ist, und dass jeder, der mit ihm in Verbindung steht, folglich auch verachtenswert ist. Dieser Vorgang ist in keiner Weise rechtlich begründet, er ist vollkommen irrational. Und deswegen musst du, wenn du wirklich bei Verstand bleiben willst, diese zwei Dinge unterscheiden: Was tun wir aus Konformismus bzw. Mitläufertum mit dem Mob? Und was ist tatsächlich richtig und gerecht? Es ist schwierig, diese beiden Dinge auseinanderzudröseln, denn die Vorstellung, Ziel des Mobs zu werden, macht Angst. Niemand will mit jemandem in Verbindung gebracht werden, auf den es der Mob abgesehen hat, weil man dann ebenso zur Zielscheibe des Mobs wird.
Nun, ich könnte noch mehr dazu sagen. Falls Russell Brand tatsächlich Frauen zu Opfern gemacht hat, hätte das zur Folge, dass alle seine Aussagen illegitim und nicht wert sind, gehört zu werden? Albert Einstein hat seine erste Frau offenbar schrecklich behandelt. Sollten wir deshalb die Relativitätstheorie verwerfen?
Wir können viele andere Beispiele aus der Geschichte hernehmen.
Einer der zugrundeliegenden Impulse hier ist herauszufinden, wer die Guten und wer die Bösen sind, und sich mit den Guten zusammenzutun, sich auf ihre Seite zu schlagen, denn dann bist auch du ein guter Mensch. Wenn es so aussieht, als wäre er einer der bösen Menschen … das ist eine sehr einfache Art, eine Bevölkerung zu kontrollieren. Aber war das eine gezielte Aktion gegen ihn? Oder ist es einfach so, dass jemand, der sowieso unkonventionell ist, durch solche Anschuldigungen besonders angreifbar ist, egal ob sie nun wahr sind oder nicht? Und wenn es jemanden trifft, der ein vollständig initiiertes Mitglied der Elite, der Machtstrukturen ist, sagen wir Joe Biden? Auch gegen ihn gab es Vorwürfe, aber sie verselbstständigen sich nicht. Sie verbreiten sich nicht, weil er nicht ein bereits an den Rand gedrängter Kandidat für Mob-Gewalt ist. Die Mühelosigkeit, mit der diese Vorwürfe auf Russell Brand gelandet sind, sagt viel darüber aus, dass er schon davor den Status eines Ausgestoßenen hatte. Dasselbe ist mit Julian Assange passiert. In seinem Fall waren es wirklich erfundene Beschuldigungen, aber das war egal. Was es brauchte, war nur das Signal, dass mit dieser Person etwas nicht stimmt. Gib das entsprechende Signal, und schon werden die Leute sagen: „Oh, ich hab’s gewusst. Ich will nicht mit diesem Vergewaltiger in Verbindung gebracht werden oder als jemand gesehen werden, der einen Vergewaltiger verteidigt.“
Und wie sich gezeigt hat, beliefen die Vergewaltigungsvorwürfe im Fall von Julian Assange sich darauf, dass er einer Sexualpartnerin gegenüber nicht ganz transparent gemacht hatte, dass er bereits in einer Beziehung war. “Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen. Das ist Manipulation. Das ist kein Konsens.” Und so weiter, und so weiter. “Es ist Vergewaltigung.” Diese Behauptung ist ziemlich dünn. Wenn du deiner Partnerin gegenüber nicht vollkommen transparent darüber bist, was du im Leben und von der Partnerin willst, und dich dann unter diesen falschen Prämissen auf Geschlechtsverkehr einlässt, ist das dann wirklich Vergewaltigung? Kannst du das in dieselbe Kategorie zusammenfassen wie gewaltsamen sexuellen Übergriff? Dann sagt der Begriff nicht mehr viel aus, nicht wahr?
Aber diese Anschuldigungen sind Signale: Hier ist die Zielscheibe. Auf ihn! Um zu sagen, ob diese Anschuldigungen ein geplanter Versuch sind, um Russell Brand zu diskreditieren, oder ob sie schlichtweg Fahrt aufnehmen, weil er als Kritiker der Machtelite ohnehin schon ein willkommenes Ziel abgibt, habe ich zu wenig Informationen. Vielleicht ist er ein gewalttätiger Sexualstraftäter. Wir haben Gerichtshöfe, um das herauszufinden. Aber was in der Zwischenzeit passiert, steht auf einem anderen Blatt.
Benjamin Life:
Eine der beunruhigendsten und verdrehtesten Umkehrungen, die ein Kennzeichen der kollektiven Schattenprojektion zu sein scheint, entsteht, wenn Menschen, die Russell Brand verteidigen, beschuldigt werden, einem politischen Kult zu folgen. Und die Menschen, die diese Kritik befeuern, sind sich ihres eigenen sektenhaften Verhaltens vollkommen unbewusst.
Charles Eisenstein:
Es ist ein absolut sektenhaftes Verhalten, wenn man jene ausgrenzt und anprangert, die beim Sektenführer in Ungnade gefallen sind. So funktionieren Kulte und Sekten. Der Sektenführer deutet auf eine Person, sagt, sie sei tabu, unberührbar, schändlich, und dann wird sie gemieden. Das passiert in religiösen Sekten. Es passiert in charismatischen Kulten. Genau so läuft es ab. Nicht nur die Menschen, die Russell Brand verteidigen, folgen einem Kult, sondern auch die, die ihn angreifen. Und das ist selbst dann wahr, wenn er im Sinne der Anklage schuldig ist, was sehr, sehr gut möglich ist. Und wenn das so ist, dann verdienen die Opfer Wiedergutmachung. Ich glaube zwar nicht an Bestrafung, aber es sollte irgendeine Art Gerechtigkeit geben. Schließt das mit ein, dass wir zur Strafe seinen politischen Kommentaren kein Gehör mehr schenken? Nein. Das wäre Wahnsinn. Es geht nicht darum herauszufinden, wer die Guten sind.
Benjamin Life:
Die letzte Facette in diesem Zusammenhang geht über die Mob-Mentalität rund um die Anschuldigungen an Brand hinaus. Es scheint weit verbreitet zu sein, dass Menschen, die geistig-seelische Gesundheit kultivieren, die „Islands of Sanity“ kultivieren, mit der Projektion umgehen müssen, dass sie eine Sekte seien. Dass sie allein dadurch, dass sie sich nicht zur Mainstream-Kultur bekennen und nicht mit ihr verbunden sind, für verrückt erklärt werden.
Charles Eisenstein:
Auf eine Art sind sie ja auch eine Sekte. Es ist eine Gruppe von Menschen, die ein anderes Glaubenssystem haben und sich gegenseitig darin bestärken.
Es ist fast unmöglich, alleine ein Glaubenssystem aufrechtzuerhalten, das sich vom dominanten Glaubenssystem unterscheidet. Man sucht natürlich andere Menschen, die einem Bestätigung geben, und die einem helfen können, es weiter auszuarbeiten und zu erforschen. Die Gründung einer neuen Kultur ist ein Gruppenprozess.
Die Wörter Kult und Kultur sind offensichtlich miteinander verwandt. Ich würde sagen, dass man die dominante Kultur als Kult oder Sekte bezeichnen könnte. Und eine Sekte ist eine Kultur, die von der dominanten Kultur getrennt ist. Deswegen nennt man sie so. Was eine Sekte toxisch macht – und auch die dominante Kultur toxisch macht – ist, wenn Abweichungen schwer bestraft werden, wenn du mit Ausgrenzung und sogar Vergeltung konfrontiert wirst, wenn du dich nicht zu den Überzeugungen bekennst, die die Sekte vorschreibt. Wer die Tabus und Rituale der Sekte nicht befolgt und nicht das entsprechende Verhalten an den Tag legt, wird große Schwierigkeiten bekommen.
Übersetzt von Christoph Peterseil, korrekturgelesen von Vanessa Groß und Janet Klünder. Audioversion gelesen von Marcus Jurk (Charles Eisenstein) und Christoph Peterseil (Benjamin Life). Die englische Originalfassung dieses Blogbeitrages ist hier zu finden.
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