“Wir haben alles Mögliche ausprobiert und nichts davon hat funktioniert. Nun müssen wir es mit dem Unmöglichen versuchen.” – Sun Ra
Wie die meisten von euch wissen, berate ich Robert F. Kennedy Jr. in seinem Präsidentschaftswahlkampf und bin über seine jüngsten Äußerungen über Israel und den Nahen Osten zutiefst enttäuscht. Ich habe trotz unserer unterschiedlichen Meinungen zum Thema Israel/Palästina zu ihm gehalten, weil ich in ihm persönliche Qualitäten sehe, die mir Grund zur Hoffnung geben, dass er seine Meinung ändern wird. Da aber viele Menschen bei mir nach seelischer Gesundheit oder Klarheit suchen, oder nach einer Friedensperspektive zum Zeitgeschehen, fühle ich mich verpflichtet, meine eigene Stellungnahme zu den aktuellen Ereignissen abzugeben. Es ist nicht der Standpunkt der Kampagne oder des Kandidaten. Aber ich hoffe, dass er es sein wird.
In Anbetracht der abscheulichen Grausamkeit des Hamas-Angriffs auf Israel und der Aussicht auf einen Vergeltungsschlag, der ein noch größeres Massaker an den Bewohnern des Gazastreifens mit sich bringen wird, sollte eines allen nun mehr als klar geworden sein: Die Politik von zwei Generationen palästinensischer und israelischer Führung hat jeweils genau das Gegenteil dessen hervorgebracht, was sie erreichen wollte.
Unterdrückung, Ausgrenzung, Inhaftierung, Gewalt, Morde, Mauern und Zäune haben Israel nicht sicherer gemacht.
Gewaltsamer Widerstand, Raketen und Terroranschläge haben den Palästinensern weder ihr Land zurückgegeben, noch ihnen irgendeinen bedeutenden Grad an Selbstbestimmung verschafft.
Es ist schwer, hierüber überhaupt eine Aussage zu machen, ohne dass jemand versucht, sie zu entschlüsseln und in ihr Hinweise dafür zu finden, auf wessen Seite ich stehe. Ob ich wohl den Angriff der Hamas für gerechtfertigt halte? Ob ich vielleicht einen zerstörerischen Gegenangriff durch Israel für gerechtfertigt halte? Wer hat Recht und wer hat Unrecht?
Fragen wie diese stehen für eine Denkweise, die dafür sorgt, dass blutige Rachezyklen fortbestehen und wachsen. Irgendwann müssen wir eine Entscheidung treffen: Wollen wir Rache, damit die Bösen bestraft werden und die Guten zu ihrem Recht kommen? Oder wollen wir, dass der Schrecken ein Ende nimmt? Das ist weder falsche Ausgewogenheit noch ist es eine spirituelle Vermeidungsstrategie. Es ist eine praktische Entscheidung. Gestern Abend habe ich ein weiteres Gespräch mit Benjamin Life aufgenommen, in dem es um die Natur dieser Entscheidung geht und darum, wie sie sich auch auf persönlicher Ebene auswirkt. Ich werde es am Ende dieses Essays teilen.
In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag auf der Plattform, die sich selbst X nennt, die ich aber weiterhin Twitter nennen werde, offenbart Isaac Saul eine wichtige Erkenntnis:
Weder glaube ich, dass die Hamas Israelis tötet, um sich zu befreien, noch glaube ich, dass sie es tut, um Frieden zu schaffen. Sie tut es, weil sie den Teufel auf der Schulter jedes unterdrückten Palästinensers verkörpert, der in diesem Konflikt jemanden verloren hat. Sie tut es aus Rache. Es geht ihnen darum, den Spielstand auszugleichen, und sie folgen dabei dem schlimmsten unserer menschlichen Impulse: Blut mit Blut zu vergelten,– eine Neigung, der man leicht verfällt, wenn man erlitten hat, was ihr Volk erlitten hat. Es dürfte nicht schwer sein, ihre Logik zu verstehen – es ist nur schwer zu akzeptieren, dass Menschen zu so etwas getrieben werden können. Es sollte keine große Hürde sein, die Hamas nicht zu verteidigen. Bitte überwinde sie.
Das ist soweit wahr und wichtig. Ich würde aber gerne einen Schritt weitergehen. Saul sagt, dass wir aufhören sollten, uns von der Frage ablenken zu lassen, ob wir die Hamas „verteidigen“ oder „nicht verteidigen“. Einerseits, weil ihre Taten zweifellos nicht zu verteidigen sind. Aber vor allem, weil all diese Fragen – wer mit seinem Handeln zu „verteidigen“ ist; wer im Recht und wer im Unrecht ist; wer durch sein „Recht auf Selbstverteidigung“ oder „das Recht, sich mit Waffengewalt der Unterdrückung zu widersetzen“ gerechtfertigt ist – sich derselben Denkweise und derselben Annahmen bedienen, die der Rache zugrunde liegen.
All diese Unterscheidungen machen es uns leicht, ja, allzu leicht, zu entscheiden, was zu tun ist, wie wir reagieren sollen, wen wir töten sollen. Ich habe die letzten paar Tage damit verbracht, die jüngsten Ereignisse von einem anderen Standpunkt aus zu lesen, zu hören und in sie hineinzufühlen. Ich würde sagen, von einer anderen Art von Fragen ausgehend. Aber wenn es wirklich Fragen sind, bestehen sie nicht aus Worten. Sie sind ein „Hinterfragen“, die erste beklemmende Ratlosigkeit des Wie und Warum? Was nur könnte Menschen dazu bringen, so etwas zu tun?
Solch ein Hinterfragen will den wahren Ursprung des Schreckens verstehen und gibt sich nicht mit falschen Begründungen zufrieden, wie „Sie sind einfach böse“ oder „Eine böse Religion hat ihnen den Verstand geraubt“. In seinem Artikel, der es wert ist, in voller Länge gelesen zu werden, beschreibt Saul ausführlich und leidenschaftlich die Umstände, die für den Ausbruch des Racheaktes verantwortlich sind. Je besser man die Geschichte der Region versteht, die nicht erst mit der Nakba von 1948 begann, sondern zurückreicht über Tausende von Jahren der Vertreibung und des Genozids am jüdischen Volk, desto unzufriedenstellender erscheint einem die Pseudoerklärung vom „Bösen“. Sobald man die Reichweite und Komplexität der Situation erfasst hat, ist die erste und fruchtbarste Reaktion die Fassungslosigkeit. Das ist der Moment, in dem ich mir bewusst werde, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Die gewohnten Reaktionsmuster fallen gemeinsam mit den fest verankerten Geschichten, auf denen sie basieren, in sich zusammen. Geschichten von Terroristen, die in einem unerbittlichen Feldzug und mit dem Ziel, Israel auszulöschen, unschuldige Juden töten, oder von kolonisierenden Siedlern, die einem brutalen Apartheid-System vorstehen, das Araber als Menschen zweiter Klasse behandelt. Gut und Böse. Opfer, Täter und Retter. Es ist nicht so, als hätten diese Geschichten nichts zu bieten. Jede von ihnen verrät uns etwas. Aber viel wichtiger ist das, was sie verschweigen.
Fassungslosigkeit ist fruchtbar, weil sie uns einen Schritt vom reflexartigen Festhalten am Drama entfernt, das die Menschheit immer wieder in die Hölle gestürzt hat.
Der Teufel auf der Schulter – nicht nur eines jeden unterdrückten Palästinensers, sondern eines jeden Menschen, dem Ungerechtigkeit widerfahren ist, sei es aus politischen Gründen oder in der Ehe, im Job oder in anderen Beziehungen – spricht umso überzeugender, je schwerer der Kummer ist. Auch auf meiner Schulter sitzt einer, doch er spricht im Flüsterton, denn mein Kummer wiegt nicht so schwer. Anders ist es bei den Menschen im Heiligen Land. Nur wenige Orte auf der Welt liefern diesem Teufel so viel Stoff für seine Tiraden. Der Name dieses Teufels ist Rache. Sein Wohnsitz ist die Selbstgerechtigkeit. Und sein Erzfeind die Vergebung.
Ich bin von Robert F. Kennedy Jr. nicht deshalb enttäuscht, weil er für die falsche Seite Partei ergriffen hat, sondern weil er überhaupt Partei ergriffen hat. Wir brauchen eine Führung, die das tragische und unausweichliche Versagen der Unterwerfung als Formel für eine bessere Welt anerkennt. Dass er versäumt, die Leiden der Palästinenser in seine Aussagen miteinzubeziehen, ist ein Symptom der Parteinahme. Eine derart verzweifelte Bevölkerung wie die des Gazastreifens, die bereits zwei Generationen der Gewalt und Erniedrigung ausgesetzt ist, ist ein Pulverfass der Wut, das darauf wartet, entzündet zu werden. Chris Hedges sagt:
Was erwartet Israel – oder die Weltgemeinschaft? Wie kann man 2,3 Millionen Menschen – die Hälfte davon arbeitslos – sechzehn Jahre lang im Gazastreifen einsperren, einem der am dichtesten besiedelten Teile der Erde, und damit die Leben seiner Bewohner – die Hälfte davon Kinder – auf ein Existenzminimum reduzieren, sie von grundlegender medizinischer Versorgung, Lebensmitteln, Wasser und Strom abschneiden, Angriffsflugzeuge, Artillerie, mechanisierte Einheiten, Raketen, Marinegeschütze sowie Infanterie einsetzen, um willkürlich unbewaffnete Zivilisten abzuschlachten, ohne eine bewaffnete Reaktion zu erwarten?
In einer hochgradig aufgeladenen, polarisierten Umgebung ist es beinahe unmöglich, diese Aussage als das zu lesen, was sie wirklich ist: eine Erklärung – keine Rechtfertigung. Erklärungen, die sich nicht um das Böse (oder ein Codewort dafür) drehen, stören im vorherrschenden Schwarz-Weiß-Denken das Narrativ, das es uns leicht macht zu entscheiden, was wir tun sollen, wen wir töten sollen und wer "wir" überhaupt sind. Es ist kaum möglich, die Tatsache zu erwähnen, dass Israel dieses Jahr im Westjordanland etwa 250 Palästinenser, einschließlich 47 Kinder, ermordet hat, ohne dass es bei den meisten Zuhörern als Rechtfertigung für die Angriffe ankommt. Es ist allerdings eine unverzichtbare Information, wenn wir verstehen wollen, warum der Teufel auf der Schulter der Hamas-Terroristen so überzeugend war.
Derselbe Teufel schreit jetzt in die Ohren der Israelis. So wie die Hamas-Terroristen Taten verübt haben, die nichts in Richtung Frieden oder Befreiung bewirkt haben, sondern nur Racheakte, so hat auch Israel die Möglichkeit, eine Reaktion zu wählen. Wird es Sicherheit suchen? Oder Rache?
Vielleicht ist die Widersprüchlichkeit dieser beiden Ziele nicht gleich offensichtlich. Wenn wir Vergeltung üben und „den Feind einen Preis zahlen lassen“, schafft das nicht Sicherheit? Ist es nicht noch sicherer, wenn der Racheakt die Feinde komplett auslöscht? Nein. Was passiert, ist, dass die Rache endlos neue Feindschaft sät und dauerhaft eine „Sicherheit“ erschafft, die niemals wirklich sicher ist.
Der Teufelskreis der Vergeltung steht in direkter Verbindung zu dem Paradigma von Gut gegen Böse. Jeder gewaltsame Akt der eigenen Seite ist innerhalb des vorherrschenden Narrativs „gerechtfertigt“; jeder gewaltsame Akt der anderen Seite ist „ungerechtfertigt“. Eine gerechtfertigte Tat ist eine gute Tat. Eine ungerechtfertigte Tat ist eine böse Tat. Die andere Seite übt eine endlose Reihe böser Taten aus. Sie muss böse sein. Diese Bewertung trägt die volle Kraft der Trauer und Wut in sich, die aus der Verstümmelung und Tötung geliebter Menschen erwächst und die alle Beweise und logischen Zusammenhänge, die der Intellekt aufbieten kann, für ihre Zwecke rekrutiert.
Ist die Identität der eigenen Seite als gut – und die der anderen als böse – einmal etabliert, dann ist damit jede Handlung gerechtfertigt, schließlich ist es immer ein Schlag des Guten gegen das Böse. Auf diese Art und Weise lenken erfolgshungrige Mächte die allgemeine Trauer und Wut der Menschen nicht nur in Richtung Vergeltung, sondern gegen jeglichen Feind, der ihrer eigenen Vorherrschaft im Wege steht.
So haben die USA die öffentliche Empörung über 9/11 für den Einmarsch im Irak ausgebeutet, wenngleich das Land nichts mit dem Angriff zu tun hatte. Aber selbst wenn es etwas damit etwas zu tun gehabt und damit den USA eine „Rechtfertigung“ für ihre Invasion geliefert hätte, blieben die Ergebnisse dieselben: mehr Gewalt, mehr Terrorismus und weniger Sicherheit.
Der Philosoph René Girard hat den Teufelskreis der Vergeltung als die ursprüngliche gesellschaftliche Krise identifiziert. Sie ist älter als die Geschichte. Sie ist selbsterhaltend, da jeder Akt der Vergeltung einen Grund für weitere Vergeltung liefert. Sie ist selbsteskalierend, da jedes Verbrechen die Zügel der Zurückhaltung weiter lockert. Girard beschreibt zwei Möglichkeiten, wie dies enden kann: Die erste ist die Zersplitterung der Gesellschaft. Die zweite ihre Reparatur, indem die Wut und der Blutdurst, die den Racheakten innewohnen, auf einen Sündenbock oder eine entmenschlichte Opfer-Unterschicht gelenkt werden, die nicht über die Mittel verfügt, um Vergeltung zu üben.
Es gibt allerdings noch eine dritte Möglichkeit. Jede Partei kann den eskalierenden Kreislauf der Vergeltung durchbrechen, indem sie sich schlicht weigert, daran teilzunehmen. Das ist, was Vergebung bedeutet: die Abkehr von dem Wunsch und der Absicht, diejenigen, die dir Unrecht getan haben, leiden zu lassen. Die abgeschwächte Form der Vergebung ist die Zurückhaltung. Du richtest etwas weniger Schaden an, als der Teufel auf deiner Schulter von dir verlangt. Zurückhaltung hält die Gewalt in einem erträglichen Maß. Zurückhaltung ist ebenfalls selbstverstärkend, denn eine zurückhaltende Reaktion nimmt dem Narrativ der anderen Seite, dass du durch und durch böse seist (dem Narrativ, das ungezügelte Gewalt rechtfertigen würde), den Wind aus den Segeln.
Vergebung ist noch wirkungsvoller. Stell dir die Reaktionen vor, wenn Israel sagte: „Unser Wunsch nach Vergeltung ist stark, aber unser Wunsch, den Teufelskreis der Gewalt im Heiligen Land zu durchbrechen, ist noch größer.“ Und wenn sie dann zum Beispiel einen Plan nach dieser Vorlage (die mir von William Stranger vorgeschlagen wurde) vorbringen würden:
(1) Das sofortige Ende aller Militäroperationen auf allen Seiten;
(2) die sofortige Suspension der Regierungen von Gaza und dem Westjordanland und ihre vorübergehende Ersetzung durch eine neutrale internationale Regierungs- und Friedenseinheit (International Governing and Peace Force (IGPF)), die autorisiert ist, Gewalt anzuwenden, um erneute Angriffe auf Israel zu verhindern und Milizen, die mit neuen Angriffen drohen, festzunehmen oder – im äußersten Fall – zu töten.
(3) die sofortige Zusammenkunft eines Sonderausschusses des UN-Sicherheitsrats mit dem Auftrag, eine endgültige Klärung des territorialen Status entsprechend der Resolution 1397 des UN-Sicherheitsrats auszuhandeln (die Zwei-Staaten-Lösung);
(4) die Wiederherstellung der Versorgung des Gazastreifens mit Wasser, Lebensmitteln, ärztlicher Versorgung und Strom, der durch die IGPF zu kontrollieren und zu überwachen ist;
(5) die Übergabe aller Geiseln und Gefangenen auf der israelischen und der palästinensischen Seite in die alleinige Verantwortung des IGPF.
Typischerweise werden solche Vorschläge von Menschen, die für eine Seite Partei ergreifen, als „Schwäche“ abgetan. Aber niemand zweifelt ernsthaft daran, dass Israel in der Lage wäre, den Gazastreifen dem Erdboden gleich zu machen und alles Leben auf diesem Gebiet auszulöschen, wenn es sich dazu entschiede. Schließlich besitzt Israel mindestens 100 Nuklearsprengköpfe. Mehr zu tun als nur Zurückhaltung zu üben, und stattdessen den Kreislauf der Vergeltung zu stoppen, wäre kein Zeichen der Schwäche, sondern ein heroischer Grad an Mut.
Die Terroristen der Hamas zeigten in den Angriffen vom Samstag, was Menschen tun, wenn sie die Zügel der Zurückhaltung abwerfen, um die bestialischsten Impulse der menschlichen Natur zu entfesseln. Jetzt ist Israel an der Reihe. Sollte Israel sich entscheiden, die Zurückhaltung abzulegen, und dann das nächste Land dasselbe entscheiden, und das nächste Land auch, dann werden die Verbrechen eskalieren und sich auf die ganze Welt ausdehnen. In einer Welt der Nuklearwaffen können wir nur hoffen, dass sich irgendwer irgendwo für die Zurückhaltung entscheidet.
Übersetzt von Vanessa Groß und Janet Klünder. Korrekturgelesen von Ingrid Suprayan. Die englische Originalfassung dieses Blogbeitrages ist hier zu finden.
Ein paar ergänzende Worte
Meine Freundin Jodie Evans wies mich auf eine irreführende Aussage in meinem letzten Essay hin. Da möchte ich etwas richtigstellen. Ich sagte: „Die Politik von zwei Generationen palästinensischer und israelischer Führung hat jeweils genau das Gegenteil dessen hervorgebracht, was sie erreichen wollte.“ Anschließend erwähnte ich als Beispiel für die Politik der palästinensischen Führung „Gewalt, Terrorismus und Raketenangriffe.“
Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zunächst wegen dem, was sie auslässt. Ja, der palästinensische Widerstand hat schon seit Yassir Arafats Zeiten Terrorakte begangen. Daneben haben Palästinenser jedoch auch viele gewaltfreie Friedensinitiativen ins Leben gerufen, wie beispielsweise den Großen Marsch für Rückkehr 2018, als Tausende junger Menschen zum Grenzzaun gingen und dessen Abriss sowie die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens forderten. Alles, was sie erreichten, waren Hunderte Toter und mehrere Tausend, die absichtlich verkrüppelt wurden, weil ihnen Scharfschützen in Kniescheiben und Fußknöchel schossen. Indem ich diese und viele, viele weitere gewaltfreie Friedensaktionen bei meiner Beschreibung der Politik der palästinensischen Führung nicht erwähnte, erzeugte ich den falschen Eindruck, sie hätten es ausschließlich mit Gewalt versucht.
Ich war mir dieser Geschichte durchaus bewusst – ja, ich habe Freunde, die palästinensische Friedensaktivisten sind. Was ich also gerne gesagt hätte, wäre so etwas wie: „Einiges am politischen Vorgehen der palästinensischen Führung – nämlich Terrorismus und Gewalt – haben das Gegenteil dessen hervorgebracht, was sie beabsichtigten.“
Das zweite Problem ist, dass meine Bezugnahme auf „die palästinensische Führung“ verschleiert, dass sie erstens keineswegs monolithisch ist und zweitens, und das ist noch wichtiger, nicht in Gänze von den Palästinensern geschaffen wurde, sondern seit vielen Jahren einer intensiven Manipulation durch Israel unterliegt. Die Hamas hat – als Gegengewicht zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) – von Anfang an Geld und Unterstützung von Israel erhalten. Israel beabsichtigte eine Spaltung in der palästinensischen Regierung und unterstützte deshalb den Aufstieg der Hamas in Gaza und der PLO im Westjordanland.
Vor kurzem hieß es in einem in der israelischen Tageszeitung Haaretz erschienenen Kommentar über Netanjahu:
Sein Lebenswerk war es, das Staatsschiff vom Kurs abzubringen, den seine Vorgänger – von Yitzhak Rabin bis hin zu Ehud Olmert – gesteuert hatten, und so die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich zu machen. Auf dem Weg zu diesem Ziel fand er einen Partner in der Hamas.
„Wer die Bildung eines palästinensischen Staates vereiteln möchte, muss die Stärkung der Hamas und Geldtransfers an die Hamas unterstützen,“ sagte er bei einem Treffen von Knesset-Abgeordneten seiner Likud-Partei im März 2019. „Das ist Teil unserer Strategie: die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern im Westjordanland zu trennen.“
Wir können also nicht über die palästinensische Führung sprechen, als ob sie in einem Vakuum existieren würde.
Noch können wir – um diesen Punkt zu erweitern – von der israelischen Führung in einem Vakuum sprechen. Mein Hauptanliegen bleibt unberührt. Israels Handlungsweisen können nicht getrennt vom Gang der Geschichte betrachtet werden, von den Pogromen, vom Holocaust und auch nicht von den Machenschaften eines imperialistischen US-Staats, der Israel als Schachfigur einsetzt und in Jahrzehnten der Umstürze, CIA-Attentate und Unterstützung brutaler Regimes in der ganzen Region den Hass sowohl gegen sich selbst als auch gegen Israel geschürt hat.
Ich wollte vor allem auf die Sinnlosigkeit von Schuldzuweisungen hinweisen und auf die Rachezyklen, die sie auslösen. Wir werden dem Morast von tausend Jahren nicht entsteigen, wenn unser Erklärungsmuster darin besteht, immer danach zu suchen, wer Recht hat und wer Unrecht, wer unschuldig ist und wer schuldig, wer gut ist und wer böse. Das soll nicht heißen, dass derartige Konzepte nicht berechtigt wären. Sie geben uns nur nicht das nötige Verständnis. Lasst uns also verstehen, anstatt zu beschuldigen. Manche Leserinnen meines letzten Texts scheinen zu glauben, dass der Versuch zu verstehen gleichbedeutend ist mit Nichthandeln. Dass Mitgefühl Untätigkeit bedeutet. Nein. Verständnis lässt Handeln erst wirksam werden; es befreit uns von den festgefahrenen Mustern der Ignoranz.
Morgen werde ich ein Video veröffentlichen, das tiefer auf die Psychologie und Politik des Verständnisses eingeht. Titel: „Wenn wir wirklich wollen, dass es ein Ende nimmt ...“
Ergänzung übersetzt von Ingrid Suprayan. Korrekturgelesen von Janet Klünder und Vanessa Groß. Die englische Originalfassung dieses Textes ist hier zu finden.
[Dieser Artikel ist unter einer Creative-Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreitet und vervielfältiget werden.]
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Danke für diese Zeilen! Es gibt wenige Menschen, in deren Texte ich eine Resonanz empfinde. Danke, dass Sie den Mut haben, erneut nicht dem Strom zu folgen. Ihre Geisteshaltung hat das Potential für echten Frieden. Auch wenn es unmöglich und aussichtslos erscheint.
Einen Friedensprozess dort werden die USA aus geostrategischen Gründen niemals zulassen. Das vergessen Sie.