Etwas regt sich im Herzen der USA
Ich schreibe heute aus Kansas. Es war mein erster Vortrag in Kansas, im Rahmen der Fuller Field School, einem zweitägigen Seminar für Landwirte, das von Gail und Lynette Fuller ins Leben gerufen wurde. Ich möchte gerne einige der tiefen Eindrücke teilen, die ich bei diesem Seminar gesammelt habe.
Heute früh ging ich barfuß zum Versammlungsplatz, wo ich meinen Vortrag halten sollte. Jeder, den ich sah, trug Schuhe. Ich fragte mich, ob ich damit jemanden vor den Kopf stoßen würde. Ein älterer Herr kam auf mich zu, der mit seinen Cowboystiefeln und der Baseballcap ganz die Stereotype des alteingesessenen Bauern aus Kansas erfüllte. „Mein Crossfit-Coach läuft auch immer barfuß“, sagte er. „Er sagt, es ist total gesund, sich zu erden.“
Ein tiefes Erwachen ist an den unwahrscheinlichsten Orten im Gange, und die alte Ordnung ist dabei, sich aufzulösen.
Ein anderer Mann, der auf der Stelle zu einem Casting als Cowboy hätte gehen können, ohne die Kleidung wechseln zu müssen, erzählte mir von seinem Kundalini-Erwachen vor sechs Monaten. Auf dem Büchertisch lag eine Ausgabe von Miguel Ruiz‘ Die vier Versprechen. „Ich habe es gerade zu Ende gelesen“, sagte ein Landwirt mittleren Alters. „47 Jahre lang bin ich falsch mit Gefühlen umgegangen.“
Die Veranstaltung brachte etablierte Rancher, von denen wenigstens einer auf 7.000 ha Land Rinder weidet, mit urbanen Bäuerinnen, Landwirten in Ausbildung, Kleinbauern und Aktivisten für nachhaltige Landwirtschaft zusammen. Das verbindende Element war die Liebe zum Boden. Gails Motto lautet: „Boden ist die Antwort. Was ist die Frage?“ Ich habe viel gelernt, indem ich bei Gesprächen zuhörte; zum Beispiel, dass nachhaltiges Weiden maßgeblich von Wühltieren abhängt, insbesondere Mistkäfern, damit Jauche und Wasser in die Erde eindringen können. Ohne sie bleibt die Jauche lange genug auf der Oberfläche, um als Brutstätte für Fliegen zu dienen, die Menschen und Tiere krank machen. Die Mistkäfer werden sowohl durch die Anwendung von Insektiziden zur „Kontrolle“ verschiedener Insektenplagen dezimiert als auch durch Entwurmungsmittel für die Kühe.
Die Ergebnisse von regenerativer Bewirtschaftung, beispielsweise mittels intensiver Rotationsbeweidung oder Direktsaat, grenzen an ein Wunder. Der Boden baut sich schnell auf und bindet ganze 5-10 t Kohlenstoff jährlich. Dazu kann der Boden viel mehr Wasser aufnehmen. Gail beschrieb, wie bei seiner alten Farm – nach ein paar Jahren holistischen Weidemanagements – der Boden eine Versickerungsleistung von 15 Sekunden für die ersten 2,5 cm Wasser erreichte, und 45 Sekunden für die zweiten 2,5 cm. Er testete dies an seiner neuen Farm, als er dort hinzog. Für 2,5 cm benötigte das Wasser 45 Minuten. Wenn das Wasser nicht schnell versickern kann, fließt der Großteil bei einem Gewitter ab und schwemmt Mutterboden ab. Der Regen erreicht nie die grundwasserführende Schicht, um sie zu erneuern. Mit der Zeit trocknen Quellen, Bäche und Brunnen aus. Aus dem ausgedörrten Boden verdunstet kein Wasser, wodurch sich Dürren verschlimmern und die Landschaft austrocknet. Im Ergebnis entsteht ein Kreislauf aus Überschwemmung und Dürre anstelle von verlässlichen, über das Jahr verteilten Niederschlägen.
Ein paar Teilnehmer erzählten von einem Freund, einem Rancher in einer Gegend in Mexiko, die der Wüstenbildung ausgesetzt ist. Er hatte ihnen ein Foto von sich geschickt, auf dem er inmitten von Gras steht, das ihm bis zum Kopf wächst. Diese Art Gras sollte nur bis zu einem Meter hoch wachsen. Ein vormals ausgetrockneter Bach auf seinem Grundstück fließt nun das ganze Jahr über, selbst in trockenen Jahren. Eine Meile hinter seinem Grundstück ist er wieder trocken. Sein Nachbar, ein konventioneller Landwirt, meint, es müsse daran liegen, dass der andere mehr Regen abbekomme. Die Landschaft auf dem Bild war vor zehn Jahren verwüstet.
Andere teilen ähnliche Geschichten. Tote Quellen erwachen zu neuem Leben, Bäche fließen wieder, Pflanzen und Tiere, die Jahrzehnte verschwunden waren, kehren wieder zurück. Gesundheit ist zum Greifen nah.
Kansas ist Teil der Gegend im Landesinneren der USA, die als „Heartland“ – das Herzland – bekannt ist. Für mich ist das, mit Blick auf die Menschen, die ich hier traf, eine treffende Bezeichnung: bodenständig, offenherzig, freundlich, liebenswürdig und bescheiden. Aufgrund dieser Qualitäten kann hier das, was manchmal Erwachen des Bewusstseins genannt wird, sehr schnell geschehen. Ich hatte nicht erwartet, dass konservativ wirkende Landwirte in ihren Sechzigern und Siebzigern einen so leichten Zugang zu Tränen haben würden. Die Trauer um das, was ihrem Land, ihrer Art zu leben, ihrem Ort und der Geschichte aller Menschen, die dort gelebt haben, widerfahren ist, wird für sie spürbar. Hier hat sich im Zuge einer langen Folge von wiederkehrender Enteignung viel Traurigkeit angesammelt, auch im Land selbst. Es begann mit der Enteignung der First Nations, die hier in Hülle und Fülle lebten, ehe die Siedler kamen. Dann folgte eine zweite Welle der Enteignung von Bauernfamilien in der x-ten Generation. Einige versuchten mutig, ihre Höfe vor den Banken zu retten. Einige schafften es wirtschaftlich nicht. Manche haben Glaubenssätze verinnerlicht, die die Landwirtschaft als den niedersten aller Berufe ansehen, und ermutigten ihre Kinder, dem bäuerlichen Leben zu entfliehen und stattdessen Ärzte, Anwälte und Ingenieure in Wichita, Kansas City oder Chicago zu werden. Wer blieb, verlor ebenfalls seine Art zu leben, da traditionelle Mischbetriebe von industrialisierten Monokulturen und Mastbetrieben verdrängt wurden.
Im ganzen Land kann man entlang alter Feldwege „Geisterfarmen“ entdecken. Verfallene Bauernhäuser, baufällige Scheunen und Silos, überwachsene Apfelgärten ... Die Überbleibsel der Leben von Generationen, die dort liebten und lebten. Heute sind sogar ihre Geschichten verloren. Es gibt auch Geisterstädte, wo alle Betriebe schon lange dichtgemacht haben, außer vielleicht einem Ramschladen, einem kleinen Lebensmittelladen und einer Tankstelle. Der nächste Supermarkt ist vielleicht 50 oder 60 Kilometer entfernt. Es ist blanke Ironie, dass ein Ort mit einem der fruchtbarsten Böden der Erde sich zu einer Lebensmittelwüste wandeln konnte, die von Armut, Alkoholismus, Meth-Abhängigkeit, häuslicher Gewalt und Kindesmissbrauch geplagt ist. Im Heimatbezirk der Fullers liegt die Armutsrate bei 35 %. Das ist höher als die Armutsrate in Detroit.
Es ist kein Zufall, dass der Zerfall des Lebens den Zerfall von Land und Boden begleitet hat. Aber nach meiner Wahrnehmung hat dieser Ort einen Wendepunkt erreicht; so mein Eindruck nach meinem Treffen mit diesen Menschen. Natürlich weiß ich, dass die Teilnehmer der Fuller Field School eine kleine, nicht repräsentative Auswahl der Gesamtbevölkerung von Kansas darstellen. Aber: wenn sie so etwas erleben können, kann es auch den anderen so ergehen. Der Mann mit dem Kundalini-Erwachen – er hatte bis zu diesem Jahr absolut keine Vorstellung von Kundalini. Null. Nicht in seinen wildesten Träumen hätte er sich die Geschichte ausmalen können, die er mir erzählte. Ich habe vor, ihn zu interviewen, wenn ich meinen Podcast wieder aufnehme. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine mich zu erinnern, dass dieses Erwachen (das sich als besonderes Leuchten in seinen Augen bemerkbar machte) dem Scheitern seiner Ehe folgte. Es gab eine Krise, einen Bruch. Gails Reise in die regenerative Landwirtschaft begann ebenfalls mit einem Zusammenbruch, als er seine Ernteausfallversicherung verlor und in den finanziellen Ruin rutschte. Ich hörte viele weitere Geschichten dieser Art: Pestizidvergiftung, Selbstmord, Sucht und – immer wieder – Krebs. Unter den aktuellen Bedingungen kommen viele, viele Menschen auf einmal an einen Wendepunkt. Das ist keine Garantie für eine gesellschaftliche Wende, verspricht aber zumindest eine Chance.
Ich gewann den Eindruck, dass das Heartland wie eine übersättigte Lösung ist; bereit für den Übergang in eine neue Phase. Ein Körnchen Staub, eine kleine Vibration kommt mit der Lösung in Kontakt, und sofort kristallisiert sie. Die Fuller Field School macht nicht viel, außer Menschen in einer Art zusammenzubringen, die außerhalb ihrer üblichen sozialen Gewohnheiten und Erwartungen liegt. Wunder geschehen. Gail teilte etwas von dem Feedback, das er erhielt. Die Menschen sind so auf Transformation eingestellt, dass bloße zwei Tage außergewöhnlicher Gemeinschaft lebensverändernd wirken können. Etwas brodelt im Bauernland.
Ich redete mit einem Mann, Wes, der für die Behörde für Landwirtschaft in Kansas arbeitet. Er erzählte mir: „Landwirte öffnen sich wirklich. Sie rufen mich ständig an, um 21 oder 22 Uhr, um 5 Uhr in der Früh, und es geht nicht um Landwirtschaft. Es geht um sie selbst. Vieles belastet sie.“ Manches hat mit schweren Zeiten, Dürre oder wirtschaftlicher Not zu tun, aber es ist mehr als das. Wes sagte: „Sie sind überfrachtet. Sie fühlen eine Generationenschuld, zum Beispiel, weil das Grundwasser durch ihre oder die Praktiken ihrer Eltern und Großeltern austrocknet.“ Das ist ein sehr hoffnungsvolles Zeichen. Selbst wenn sie Trauer in Schuld umleiten, ist es dennoch ein weiterer Wendepunkt und Teil des Prozesses, mit der Realität ihrer Situation zurechtzukommen. Ich fragte Wes, wie er sie dabei unterstützt, von ihrem Schuldbewusstsein ins Handeln zu kommen. „Ich sage ihnen, sie sollen es anerkennen und darüber sprechen.“ Einem Mann schlug er vor, es seinem Sohn zu sagen. Wes war bei dem Gespräch anwesend, in dem der Bauer sich bei seinem Sohn entschuldigte. „Sohn, ich habe dir die falsche Art, Landwirtschaft zu betreiben, beigebracht.“ Der Sohn nahm die Entschuldigung an. „Wir werden Veränderungen vornehmen, verschiedene Dinge ausprobieren. Vielleicht Deckfrüchte ...“ Diese Veränderungen erfordern eine enorme psychische Aufräumarbeit, denn es entspricht nicht der vorherrschenden Kultur, zuzugeben, dass Papa und Opa es falsch gemacht hatten. Das ist die Art gesellschaftliche Wende, von der ich spreche.
Diese Wende ist eine Revolution des Herzens. Revolution bedeutet Wende. Wo sollte sie sich besser vollziehen als im Heartland – im Herzland? Ich frage mich, ob sich vielleicht das spirituelle Zentrum der USA von den Bergen und Küsten, wo es bisher angesiedelt war, in Richtung des Landesinneren verschiebt. Die Samen sind von Kalifornien, von Vermont, von Boulder, Asheville, Sedona und all den anderen klischeebehafteten spirituellen Mekkas herübergeweht, und hier ist der Boden fruchtbar. Die anstehenden Reparaturarbeiten an Boden und Männern, Wasser und Frauen, sind gewaltig. Die Zerstörung sitzt tief. Aber diese Landwirte zeigen, dass sogar sehr stark degradiertes Land das Potential zu wundersamer Heilung in sich trägt.
Übersetzt von Vanessa Groß und Christoph Peterseil. Die englische Fassung dieses Essays wurde im September 2022 veröffentlicht.
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