Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit Dr. Stella Immanuel? Obwohl sie längst in Vergessenheit geraten ist, würde ich sie gerne noch einmal aus den Trümmern des Nachrichtenzyklus ausgraben, denn in ihren Überresten offenbart sich uns ein versteckter kultureller Rassismus, für den die vermeintlich antirassistische Linke fast genauso anfällig ist wie die traditionelle Rechte.
Dr. Immanuel, die aus Kamerun stammt und ihr Medizinstudium in Nigeria absolvierte, nahm an einer mit dem rechten Spektrum in Verbindung gesetzten Pressekonferenz teil, in der eine Reihe von Ärzten ihre kritische Meinung über die staatliche Corona-Politik äußerten. Sie schilderte ihre klinischen Erfolge bei der Behandlung von Covid-19-Patienten mit einer Kombination von Zink, Zithromax und Hydroxychloroquin (HCQ) - Letzteres war durch Donald Trumps Befürwortung natürlich in Verruf geraten und sowohl in den USA, als auch in vielen anderen westlichen Ländern sozusagen aus der Liste der zugelassenen Corona-Medikamente beseitigt worden. Dr. Immanuel berichtete auch von der auf dem afrikanischen Kontinent weit verbreiteten Anwendung von Hydroxychloroquin als Malariamittel und ermahnte die amerikanischen Ärzte, ihren afrikanischen Kollegen zu vertrauen, denn diese seien echte Ärzte und würden das Medikament nicht anwenden, wenn es nicht funktionieren würde.
Ich habe keine klare Meinung über Hydroxychloroquin, eine chemische Substanz, die laut in den USA durchgeführten klinischen Studien bei Republikanern ja recht gut zu funktionieren scheint. Spaß beiseite, durch den Schleier des politischen Gezänks hindurch, der dieses Medikament umgibt, ist es unmöglich sich eine klare Meinung zu bilden. Außerdem bleiben weit wichtigere Themen als die Frage nach der Wirksamkeit des Medikaments darunter verborgen, nämlich Themen rund um Big Pharma, die Finanzierung medizinischer Studien und Kulturimperialismus.
Innerhalb weniger Stunden wurde die Pressekonferenz von YouTube, Facebook und Twitter gelöscht und die Medien stürzten sich mit rasenden Rachegelüsten auf die Ärzte, vor allem auf Dr. Immanuel. Auf der amerikanischen Nachrichtenseite Daily Beast erschien zum Beispiel folgende, bezeichnende Kritik:
Die Kinderärztin und Pastorin Stella Immanuel stellte bereits in der Vergangenheit so einige skurrile Thesen über medizinische und auch andere Themen in den Raum. So hat sie immer wieder behauptet, gynäkologische Probleme wie Zysten und Endometriose würden in Wirklichkeit von im Traum durchgeführtem Sexualverkehr mit Hexen und Dämonen verursacht.
Sie behauptet, dass schon heute außerirdische DNA bei medizinischen Behandlungen verwendet werde und dass Wissenschaftler gerade an einem Impfstoff arbeiteten, der Religiosität verhindern soll. Und obwohl sie am Montag in Washington D.C. erschien, um im Kongress ihre Lobbyarbeit zu betreiben, hat sie behauptet, in der Regierung seien nicht nur Menschen, sondern auch "Reptiloide" und andere Außerirdische.
Einige Berichterstatter kramten Videos aus, in denen Dr. Immanuel Exorzismen durchführte, um böse Geister zu vertreiben. Selbstverständlich, wird argumentiert, sollten wir in Sachen Gesundheitspolitik nicht auf so eine Person hören.
Der Rassismus hinter dieser Kritik hat wenig damit zu tun, dass die besagte Person schwarz ist. Vielmehr verkörpert er einen kulturellen Überlegenheitskomplex, der so tief verwurzelt ist, dass seine Grundsätze für jene, die ihm unterliegen, die einzige Wahrheit zu sein scheinen.
Betrachten wir zuerst einmal die „skurrile“ Vorstellung, dass gynäkologische Probleme durch geträumten Sex mit Hexen und Dämonen verursacht werden. In der Tat ist eine derartige Vorstellung nichts Ungewöhnliches bei indigenen und traditionellen Völkern, die allgemein davon ausgehen, dass alle unangemessenen oder unglücklichen Interaktionen mit der Geisterwelt, den Urahnen, den Zauberern etc. zu Krankheit, Verletzungen oder finanziellen Problemen führen können. Dementsprechend behandeln Heiler Krankheiten, indem sie böse Geister austreiben, Flüche aufheben, mit den Urahnen verhandeln, Gespenster vertreiben usw.
Die breite Masse der Menschen in diesen Kulturen hält solche Methoden für effektiv. Warum glauben sie daran? Betrachten wir zwei mögliche Gründe:
(1) Noch verharren sie tief versunken in Ignoranz und Aberglauben, und erst wenn sie bereit sind, die Absurdität ihrer primitiven Überzeugungen im Licht der modernen Wissenschaft zu betrachten, werden sie in die aufgeklärte Welt der Evidenz, der Vernunft und der Wahrheit emporsteigen. Sie sind weniger fortschrittlich als wir und können sich nur entwickeln, indem sie unser Weltverständnis, das überlegene, annehmen.
(2) Sie glauben an die Methoden, weil sie funktionieren. Das heißt, dass diese Menschen nicht weniger intelligent, empirisch, rational und klug sind als wir.
Würden Sie einen hinduistischen Dorfbewohner verspotten, der behauptet, dass die Erde auf dem Rücken einer Schildkröte liegt? Würden Sie es lächerlich finden, wenn eine Hopi- oder Diné-Indianerin sagt, dass Großmutter Spinne die Fäden der Welt webt? Die meisten von uns würden dies sicherlich nicht tun, aber ein Hauch dieses Spotts findet sich in unserer Bereitwilligkeit wieder, die Vorstellungen anderer Kulturen von Gesundheit und Krankheit leichtfertig abtun.
Das bizarre Andere
An dieser Stelle ein paar Details über meine eigene Geschichte: Als ich 1987 als Teenager in Taiwan ankam, fand ich eine Kultur vor, in der es viele alltägliche Glaubensvorstellungen und Phänomene gab, die mir ziemlich bizarr erschienen. In allen möglichen Situationen, beispielsweise bei Krankheiten, geschäftlichen oder familiären Problemen, einem Baustellenunglück oder bei Geisterscheinungen, engagierten die Leute einen dangji (taiwanesisch für Schamane; in Mandarin ist es jitong) oder sie bestellten taoistische Priester. Die erwiesen den Leuten üblicherweise gute Dienste und wurden sogar von gebildeten Menschen und großen Firmen (zusammen mit Fengshui-Expertinnen, Astrologen etc.) in Anspruch genommen, wann immer ein neues Projekt begonnen, eine Hochzeit geplant oder eine Firma gegründet wurde. Da ich trotz meines jungen Alters schon damals von postkolonialem Denken beeinflusst war, lag es mir fern, diese Praktiken von vornherein abzulehnen, denn dies hätte der herablassenden Überzeugung bedurft, dass ich ihnen (in Lebensweise und Wissen) überlegen war. Ich erkannte, dass eine solche Ablehnung Teil eines altbekannten kolonialen Musters der Unterwerfung ist. Sind wir uns wirklich so sicher, dass unsere Wege die besten Wege sind?
Die Art von Exorzismus, den Dr. Immanuel durchführt, und in dem sich die synkretische Überlagerung von christlichem Glauben und vorherigen pantheistischen Weltanschauungen manifestiert, ist nur vom Standpunkt einer isolierten, kulturgebundenen, westlichen Denkweise aus betrachtet „bizarr“. In den Medien wurde Dr. Immanuel als Hexendoktorin und Verrückte bezeichnet. Live Leak nannte sie eine „religiöse wahnsinnige Voodoo-Priesterin“, die ihr Medizinstudium in „Ja... genau DEM Nigeria“ (anscheinend in dem der Internet-Scammer? In einem von Trumps „Drecksloch-Ländern“?) absolviert hatte. Schon allein die Tatsache, dass hier das Wort „Voodoo“ in einem abfälligen Ton verwendet wird, veranschaulicht meinen Standpunkt, denn der Voodoo ist ein Beispiel für die reichen synkretischen Traditionen, mit denen indigene Völker dem Angriff des Kolonialismus und des Christentums standhielten, nämlich indem sie den Anschein erweckten, bekehrt zu sein, aber tatsächlich die Religion des Eroberers in ihre eigene Kultur integrierten und sie somit neutralisierten. Wer das Wort „Voodoo“ benutzt, um die Ignoranz des Anderen zu suggerieren, beweist damit nur seine eigene.
Ein ähnlich abfälliger Ton klingt mit, wenn die Mainstream-Medien über andere, nicht-westliche Behandlungsmethoden von Covid-19 (und allgemein über nicht-westliche Medizin) berichten. Nehmen wir zum Beispiel die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), mit der über 90 % der Patienten in China behandelt wurden, die an Covid-19 erkrankt waren. Das chinesische Volk und seine Regierung sind ziemlich zuversichtlich, was die therapeutische Wirksamkeit der sechs wichtigsten (teils mehrere tausend Jahre alten) Heilkräuterrezepturen angeht, die dort zur Behandlung von Covid-19 angewendet werden. Doch die westlichen Boulevard- und Wissenschaftszeitschriften wollen es besser wissen. Hier sind einige repräsentative Zitate:
Aus Nature:
„China setzt bei der Bekämpfung des Coronavirus auf unerprobte, traditionelle Behandlungsmethoden.“
„Für die TCM gibt es keine stichhaltigen Beweise, und ihre Anwendung ist somit nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch gefährlich.“
Aus NBC News (Untertitel: „Wissenschaftler warnen vor TCM“):
„[TCM] kann den Patienten außerdem ein falsches Sicherheitsgefühl geben, wodurch sie dazu verleitet werden, wissenschaftlich erprobte Medikamente und Therapien zu vernachlässigen.“
„Pflanzliche Heilmittel - die China im Rahmen seiner Bemühungen zur weltweiten Bekämpfung des Coronavirus exportiert - setzen Patienten sowohl direkten als auch indirekten Risiken aus.“
Aus der BBC:
„Fehlende Standards und der Mangel an vorliegenden klinischen Studien erschweren die breite Anwendung der TCM“
„Kritikern zufolge benutzt China die Pandemie nun, um sie [die TCM] im Ausland bekannt zu machen.“
Wenn kultureller Respekt die Grundhaltung wäre, würde man eine medizinische Tradition, die auf mehrere tausend Jahre klinischer Erfahrung und Entwicklung zurückblickt und von buchstäblich hunderttausenden von Ärzten praktiziert wird, wohl kaum so ohne weiteres abschreiben. Allein die Chinesen suchen 2,5 Milliarden Mal im Jahr einen Arzt auf, der TCM praktiziert. Wer dies darauf zurückführt, dass sie wohl irgendwie seit mehreren tausend Jahren Opfer einer kollektiven Verblendung sein müssen, macht es sich in seiner kulturellen Arroganz ziemlich leicht und verfällt dem typischen Denken: „Sie sind sicherlich nicht so klug, so rational und so evidenzbasiert wie wir. Fortschritt für sie bedeutet, unsere Medizin zu übernehmen. Wir können ihnen helfen, sich zu verbessern, indem wir ihnen unsere Methoden bringen, denn wir wissen es besser als sie.“
Es wäre falsch, die Ablehnung der Traditionellen Chinesischen Medizin als offenen Rassismus auszulegen. Die westliche Medizin lehnt diese größtenteils deswegen ab, weil sie in erster Linie nicht einmal bereit ist, sich ernsthaft mit ihr zu befassen. Denn wie könnten sie je wissenschaftlichen Maßstäben entsprechen? Zudem wird hier die der TCM zugrunde liegende Philosophie kulturell missverstanden und so eine Reihe von komplexen, zusammenhängenden und sich selbst tragenden Paradigmen als ein primitives, willkürliches Sammelsurium von Placebo, Aberglauben und Spekulationen abgewertet. Dieser kulturelle Überlegenheitskomplex setzt voraus, dass wir es besser wissen, dass wir höhere Beweisstandards haben, dass wir erkennen, wenn Argumente und Belege eindeutige Mängel aufweisen und sie nicht. In diesem Sinne werten die in Nature und NBC zitierten Experten die TCM ab, weil sie „ungenaue Begriffe und nicht-pharmakologische Konzepte verwende, oder in ihren Studien zu viele Kräuter kombiniere um deren spezifische Wirkung wirklich analysieren zu können.“ Was sind „nicht-pharmakologische Konzepte? Dinge wie „Wind-Hitze“, „Milz-Qi“ oder „Leber-Feuer“? Für den westlichen, wissenschaftlichen Verstand sind diese Begriffe unsinnig. Sie machen nur dann Sinn, wenn man die Möglichkeit einräumt, dass eine andere Kultur die Welt genauso scharfsinnig und erfolgreich erfassen könnte wie wir, obwohl sie dabei vollkommen andere Konzepte hervorbringt. Die Bemerkung, es seien „zu viele Kräuter kombiniert worden“, lässt indes eine noch grundlegendere Blindheit erkennen. Die TCM ist eine ganzheitliche Medizin, und ihre Rezepturen können nicht reduziert werden. Das Ganze ist größer als die Summe seiner Einzelteile, denn ihre Kräuterrezepturen wirken synergetisch. Die übliche experimentelle Methode, bei der die Variablen isoliert und die Wirkstoffe - die später als Grundlage für die Arzneimittel dienen - identifiziert werden, widerspricht den grundlegenden Diagnose- und Therapie-Methoden der TCM. Dass es „keine allgemeinen Standards gibt“, liegt daran, dass Rezeptur und Dosierung individuell auf den Patienten angepasst werden. Zu verlangen, die TCM-Forschung müsse standardisierten und reduktionistischen Praktiken folgen, ist ein Akt des kulturellen Imperialismus, der nur dann zu rechtfertigen ist, wenn die Wissensbasis unserer eigenen Kultur der der anderen überlegen ist.
Was afrikanische Heilmethoden angeht, könnte ich ähnliche Argumente anbringen. Auch wenn diese nicht über eine jahrtausendelange, geschriebene Geschichte verfügen, entstammen auch sie intelligenten Weltanschauungen und Wissenssystemen. Selbst wissenschaftlich ausgebildete afrikanische Ärztinnen wie Frau Dr. Immanuel mögen in ihrem medizinischen Denken nutzbringend auf diese Methoden zurückgreifen. Vielleicht könnte damit erklärt werden, warum in großen Teilen Afrikas die Anwendung von Artemisia annua, dem einjährigen Beifuß, zur Behandlung von Covid-19 so beliebt ist. Wie Hydroxychloroquin ist auch Artemisia annua ein Heilmittel zur Bekämpfung von Malaria, das von der Pharmaindustrie brutal unterdrückt wurde. (Schauen Sie sich diesen spannenden Film an, der vom französischen öffentlichen Fernsehen produziert wurde.) Diese Pflanze, die auch in China seit mehreren tausend Jahren gegen Fiebererkrankungen eingesetzt wird, wurde in vielen Ländern wegen der angeblich in ihr enthaltenen Giftstoffe verboten. Nun ja, wenn Sie sich ihre zahlreichen chemischen Wirkstoffe ansehen, werden Sie auf einige stoßen, die in hoher, konzentrierter Dosierung krank machen. (So ist man vorgegangen, um ihr Verbot zu rechtfertigen.) Auf jeden Fall ist diese Heilpflanze in den Fokus geraten, nachdem der Präsident von Madagaskar (genau, von DEM Madagaskar) ihre Wirksamkeit zur Bekämpfung von Covid-19 öffentlich anpries. Die westlichen Medien reagierten, wie zu erwarten war, mit Schlagzeilen wie „Trotz Warnung der WHO und ohne wissenschaftliche Belege versuchen einige afrikanische Länder Covid-19 mit Kräuterelixieren zu heilen.“ Oh, diese rückständigen Afrikaner! Besonders beliebte Begriffe in diesen Schlagzeilen waren „(wissenschaftlich) nicht belegt“ und „Wunderheilmittel“ (eine hemmungslose Falschdarstellung - ich habe nicht gelesen, dass irgendein Afrikaner dies behauptet hätte.) Ich dachte mir, natürlich gibt es keine „wissenschaftlichen Belege“, solange die Arzneimittelforschung mit Fördergeldern in Milliardenhöhe unterstützt wird, während die Erforschung von Kräuterheilmethoden leer ausgeht, und wenn das medizinische Establisment nicht einmal weiß, wie man diese anwendet oder sie gar grundsätzlich ablehnt. Was ich damit sagen will ist, dass auch diese fehlende Kenntnis, diese systematische und rhetorische Geringschätzung der Kräuterheilkunde, Teil einer kulturellen Hegemonie sind, die ihre szientistische Heilsbotschaft mit missionarischem Eifer unter den geistig Umnachteten verkündet.
Ontologischer Imperialismus
All das soll nicht heißen, dass die moderne Medizin den traditionellen Kulturen nichts zu bieten hat. Auch Dr. Immanuel selbst besuchte die medizinische Fakultät, ist als Ärztin in Texas tätig und plädiert für die Anwendung einer Kombination von drei modernen pharmazeutischen Wirkstoffen. Diese Fähigkeit, sich in mehreren Wirklichkeiten oder mehreren Mythen zu Hause zu fühlen, ist ein zentrales Merkmal nicht-moderner Psychologie. Sie steht in deutlichem Widerspruch zu der ontologischen Vorherrschaft der „weißen“ Kultur, die allen anderen sagt, was Sache ist und andere Wissenssysteme entweder ausschließt, sie als Aberglauben abtut, sie als anthropologische Studienobjekte wohlwollend toleriert, ihnen eine metaphorische Wahrheit zweiter Klasse zuspricht, oder sie zum Fetisch macht, indem sie sie auf eine unterschwellig herablassende Weise als „indigene Weisheit“ kategorisiert.
Ich setze das Wort „weiß“ hier in Anführungszeichen, weil ein Zusammenhang mit der Hautfarbe rein zufälliger Natur ist, wie jeder hellhäutige Same oder jede andere indigene Person bestätigen würde. Jedoch ist auch dies in gewissem Sinne Whitewashing. Die gesamte Welt wird in den hellen Tönen eines einzigen, alles gleichmachenden Paradigmas gefärbt. Außerdem sind es zufälligerweise die hellhäutigen Völker, die den Mythos der Moderne zu seiner vollen Blüte gebracht und in die Welt hinausgetragen haben. Christliche Missionare dienten als Vorbild für die Missionare aus Wirtschaft und Wissenschaft, die ihnen folgten.
Der ontologische Imperialismus läuft hier nun auf zwei Ebenen ab. Die erste Ebene ist einfach: „Wir haben Recht und ihr habt Unrecht.“ Die zweite, subtilere Ebene ist: „Nur einer von uns kann Recht haben, denn unsere Ansichten widersprechen sich. Entweder - oder.“ Ein Hindu hingegen hätte wahrscheinlich kein Problem damit zu behaupten, die Erde ruhe auf dem Rücken einer Schildkröte und sie sei ebenso durch Akkretion aus Meteoriten entstanden. Und außerdem könnte er diese beiden Behauptungen womöglich aufstellen, ohne eine davon als wirklicher einzustufen als die andere - also ohne zu behaupten, die Akkretionsscheibe sei wirklich und die Schildkröte eine Metapher. Das Eine muss nicht über das Andere herrschen.
Können Sie die enge Verbindung zwischen ontologischer Vorherrschaft und anderen (wirtschaftlichen, politischen) Formen der Vorherrschaft sehen? Und da Sie so sehr an diese ontologische Vorherrschaft gewöhnt sind, mögen Sie mich nun fragen: „Aber Charles, Sie glauben doch wohl nicht, dass Sex mit Dämonen wirklich gynäkologische Probleme hervorrufen kann? Sie glauben doch wohl nicht, dass es wirklich Medikamente gibt, die außerirdische DNA enthalten oder dass reptilische ETs wirklich das Weiße Haus unterwandert haben?“ Unsere Kultur hat sehr wenig Übung darin, verschiedene Mythologien anzuwenden oder, je nach Bedarf, zwischen ihnen hin- und herzuwechseln. In den oben erwähnten Fragen ist die ontologische Vormachtstellung in dem Wort „wirklich“ zu erkennen. Um in eine andere Richtung zu weisen, würde ich ihre Fragen wie folgt beantworten: Normalerweise bewege ich mich nicht in einer Welt von Hexen, Dämonen, Außerirdischen und Reptiloiden. Normalerweise kommen diese in meinem Denken nicht vor. Öfter, jedoch keineswegs „normalerweise“, denke ich in Kategorien wie Milz-Qi oder Wind-Hitze. Ich werde jedoch keines dieser Weltbilder abwerten oder verwerfen. Ich nehme eine Haltung neugierigen Interesses und Respekts an. Wo liegen die Stärken und die Grenzen dieser Geschichten über die Welt? Was macht das mit einem, wenn man in ihnen lebt? Was gewinnt und was verliert man? Wie ist es, die Welt auf ihre Weise zu verstehen? Auf welche Gedanken und Wahrnehmungen bekommt man Zugriff, wenn man diese Sprache spricht? Dieselben Fragen stelle ich in der Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft und Medizin.
Es hat viele Vorteile, sich nicht auf ein vereinheitlichtes Weltbild zu beschränken. Erstens kann man sich der Vorzüge der TCM oder eines kompetenten Voodoo-Experten aus der Nachbarschaft bedienen, wenn die moderne Medizin versagt (aufgrund ihrer Konstellation an Möglichkeiten und Grenzen). Ich habe in meinem Leben auf jeden Fall von allen dreien profitiert (am meisten von der TCM, aber auch ein Exorzismus half mir einmal aus der Klemme, und ich bin dem modernen zahnärztlichen Notdienst sehr dankbar, ohne den ich heute wahrscheinlich nicht mehr leben würde). Zweitens verliert man die Angst vor Ungewissheit und Veränderung und wird anpassungsfähiger, flexibler und einfallsreicher, wenn man sich davon freispricht, dass es nur eine einzig wahre Wirklichkeit gibt. Drittens ist man in der Lage, Menschen anderer Kulturen und anderer Weltanschauungen mit Respekt zu begegnen, anstatt mit der rassistischen Einstellung, die unvermeidbar herablassend ist, dass man es einfach besser weiß als sie. Das ist wahrer Respekt. Respekt bedeutet, bereitwillig in der Welt des Anderen zu Gast zu sein, seine Bräuche zu ehren und seine Sprache zu lernen. Wenn wir am Festmahl der jeweils anderen Kultur im Geiste wahrer Gastfreundschaft teilnähmen, dann würden sich die heutigen Debatten rund um das umstrittene Thema der kulturellen Aneignung wohl schnell in Luft auflösen. Wenn Sie jemals ins Ausland gereist sind, werden Sie vielleicht erlebt haben, wie dankbar die Leute sind, wenn man irgendwie versucht ihre Sprache zu lernen. Respekt öffnet Türen und Herzen. Das Gleiche gilt auch für die Sprache der Glaubenssätze.
Denken Sie nicht, ich plädiere hier für die postmoderne Idee, die Wahrheit sei nicht mehr als ein machtvolles Konstrukt der menschlichen Kultur. Es ist auf eine mysteriöse Weise wahr, dass die Erde auf dem Rücken einer Schildkröte ruht und nicht wahr, dass das fliegende Spaghetti-Monster die Welt geschaffen hat. Die Wahrheit wird entdeckt oder enthüllt, aber nicht erfunden.
Vielleicht taucht die Geschichte der Welt-Schildkröte in so vielen, voneinander unabhängigen, indischen, chinesischen und nordamerikanischen Mythologien auf, weil sie etwas Wahres an sich hat. Was die primordiale, planetarische Akkretion angeht, so herrscht unter den Astronomen große Uneinigkeit darüber, wie Planeten entstehen. Ich sag‘ ja nur.
So, jetzt kann sofort jemand einen neuen Eintrag auf meiner (schon jetzt voller Fehler steckenden) Wikipedia-Seite machen: „Eisenstein behauptet, die Erde ruhe tatsächlich auf dem Rücken einer Schildkröte.“
Integration oder Auslöschung?
Der kulturelle Rassismus, den ich hier beschreibe, ist auch in vielen Bereichen des vermeintlich anti-rassistischen Aktivismus wiederzufinden. Wenn man von der eigenen kulturellen Überlegenheit vollkommen überzeugt ist, meint man die Rassenungerechtigkeit zu beseitigen, indem man die unterdrückten Rassen am eigenen Erfolg teilhaben lässt. Hinter diesem „Entwicklungs-“ und „Modernisierungsfeldzug“, durch den die Vorzüge der Technik in die ganze Welt getragen und die Gesundheits- und Bildungssysteme, sowie die landwirtschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Systeme anderer Völker nach dem Vorbild des Westens umgestaltet werden, versteckt sich die viktorianische Doktrin, die Kipling in seinem Gedicht „Die Bürde des weißen Mannes“ beschreibt. Wir dürfen nicht vergessen, dass einige der abscheulichsten Akte der Rassenunterdrückung im Namen der Zivilisierung der Barbaren und der Christianisierung der Heiden begangen wurden. So war zum Beispiel die Verschleppung mehrerer Generationen nordamerikanischer Ureinwohner in Internate, in denen ihre Sprache und ihre Kultur vorsätzlich ausgelöscht wurden, durchaus von edlen Absichten motiviert. Nämlich von der Idee, die Ureinwohner in den kulturellen „Schmelztiegel“ Amerikas aufzunehmen. Dann würden sie so werden wie wir. Eine rückständige, abergläubische, minderwertige Kultur sollte durch eine moderne, bessere ersetzt werden.
Auch heute schwingt diese Haltung gewissermaßen mit, wenn wir den Antirassismus zu sehr darauf reduzieren, dass farbige Menschen unter den Vorständen, Ärzten, Professoren ... unterrepräsentiert oder unter den Armen oder Inhaftierten überrepräsentiert sind. Zwar ist es wirklicher Rassismus - der gegenwärtige, aber vor allem der historische - der zu diesen Ungleichheiten führt, doch wenn wir uns allein auf diese konzentrieren, laufen wir Gefahr, die zugrundeliegende systemische Ungerechtigkeit zu übersehen. Man würde nicht besonders viel erreichen, wenn man die im Status quo existierenden Rollen und Beziehungen einfach mit Menschen verschiedener Hautfarben besetzen würde. Diese Rollen und Beziehungen sind selbst eine Kreation der hegemonialen kulturellen Matrix, die wir als „weiß“ bezeichnen. Wenn wir diese Matrix als selbstverständlich und unveränderbar ansehen, nun ja, dann ist Rassengerechtigkeit in der Tat eine Frage der Repräsentanz. Aber wird so das Monopol der Weißen gebrochen, oder werden vielmehr alle zu Weißen gemacht? Genau dagegen spricht sich der nigerianische (ja, schon wieder DIESES Nigeria) Intellektuelle, Poet und Autor Bayo Akomolafe aus, wenn er schreibt:
„Selbstverständlich war unser Leben von einem ständigen Selbsthass durchzogen, der uns dazu drängte, die zivilisatorischen Höhen des Weißseins zu erklimmen.. Er drängte uns dazu, unter einer verdutzten Sonne mit dreiteiligen Anzügen herumzulaufen. Er drängte uns dazu, unsere eigenen Traditionen zu verteufeln, um mit euch mithalten zu können.“
Wenn eine Kultur eine andere bezwungen hat, ist es durchaus verständlich, dass die Besiegten sich zu den stolzen Siegern gesellen wollen. Die Konservativen sagen traditionsgemäß: „Pech, wir haben gewonnen und ihr habt verloren“. Und die Liberalen sagen: „Lasst uns nett sein und den Benachteiligten auch einen Platz einräumen.“ Aber niemand stellt die Frage, ob dieser Sieg, der moderne Medizin und Bildung, Politik und Wissenschaft, Geld und Märkte über die ganze Welt verteilt, überhaupt begehrenswert ist.
Es könnte nun scheinen, dass hier eine weiße Person allen anderen sagen will, sie sollten nicht nach all dem streben, was ich selbst besitze - wo doch die ganze Welt moderne Medizin, zeitgemäße Schulbildung und wirtschaftliche Entwicklung will. Sie sagen doch selbst, dass sie all das wollen – also Fall abgeschlossen. Man sollte jedoch die Hintergründe dieses Wollens hinterfragen. Wenn ich mich selbst zitieren darf, hier eine Passage aus meinem Buch Die Renaissance der Menschheit, wo es darum geht, wie man eine Kultur zerstört und sie dazu bringt, der unseren ähneln zu wollen:
„Störe ihre Netzwerke der Gegenseitigkeit durch die Einführung von Konsumgütern von außen. Zermürbe ihr Selbstwertgefühl mit prächtigen Bildern vom Westen. Mache ihre Mythologien lächerlich mit Hilfe von Missionarsarbeit und wissenschaftlicher Erziehung. Beseitige ihre traditionellen Formen der Wissensweitergabe durch die Einführung von Beschulung mit auswärtigen Lehrplänen. Zerstöre ihre Sprache, indem du diesen Unterricht in Englisch oder einer anderen nationalen Weltsprache abhältst. Durchtrenne die Verbindung zu ihrem Land durch den Import billiger Nahrungsmittel, um örtliche Landwirtschaft unökonomisch zu machen. Dann wirst du ein Volk erzeugt haben, das nach dem „richtigen“ Turnschuh trachtet.“
Es gibt folgende Argumentation: „Sie wollen auch Nike-Schuhe tragen (d.h. einen modernen Lebensstil), und ihnen zu sagen das ginge nicht, ist rassistisch“. Wie Sie sehen, schließt man jedoch mit dieser Argumentation den gesamten Kolonialisierungsprozess aus einer kritischen Betrachtung aus.
Bitte denken Sie nicht, ich wolle damit sagen, man solle nichts gegen den ungleichen Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmitteln, Macht und Geld unternehmen. Ganz im Gegenteil, es geht darum, diese Bedürfnisse außerhalb des hegemonialen Modells der Weißen zu stillen. Und denken Sie auch nicht, ich wolle hiermit Menschen aus benachteiligten Gruppen kritisieren, die dafür kämpfen, in der Welt der Weißen erfolgreich zu sein. Ihr Handeln ist eine natürliche Reaktion auf die gegebenen Umstände. Vielmehr will ich damit sagen, dass die Heilung (und Wiedergutmachung) der Wunde des Rassismus weit mehr ist als Integration in die von Weißen konstruierte, weißgewaschene Welt.
„Inklusivität“ ist ein Schlagwort der Anti-Rassismus-Bewegung. Doch wäre es kein Sieg für die Menschheit, würden Schwarze fortan gemeinsam mit Weißen die Hebel der weltzerstörenden, die Menschheit ausbeutenden Maschine betätigen. Allzu oft bedeutete „Integration“ Auslöschung, bedeutete die Inkaufnahme eines endgültigen, weltweiten Siegs der weißen Kultur. Eine wirkliche Überwindung des Rassismus würde nicht darin bestehen, die ehemals Ausgegrenzten großmütig in die herrschende Kultur "miteinzubeziehen", sondern vielmehr darin, die Herrschaftsmuster insgesamt abzuschaffen. Viele Weiße spüren dies und sehnen sich darum danach, selbst in andere Kulturen aufgenommen zu werden. Selbst wenn diese Sehnsucht manchmal zu kultureller Aneignung führt, so rührt sie doch auch von einer wachsenden Demut, die erkennt, dass unsere Kultur letztendlich vielleicht doch nicht die beste ist.
Ähnlich verhält es sich mit einem anderen Schlagwort des Rassismusdiskurses: die „Privilegien“. Der Privilegiendiskurs sagt: „Ihr Weißen habt einen Platz an der Festtafel und andere nicht. Außerdem profitiert ihr direkt von der Not anderer.“ Das stimmt so weit, was jedoch in diesem Narrativ außer Acht gelassen wird, ist die Frage, ob sich das Festmahl wirklich lohnt. In unserer Verblendung halten wir unser Festmahl für unübertrefflich und gehen davon aus, dass Gleichheit, Gerechtigkeit und Fortschritt darin besteht, allen anderen einen Platz an der Tafel zu verschaffen, auf der wir moderne Medizin, freie Marktwirtschaft, Frontalunterricht und neoliberale Demokratie auftischen.
Hotdogs und Pommes
Ich sehe die Situation etwas anders: Das Festmahl ist in Wirklichkeit eine Orgie der Völlerei, und die Hauptspeise besteht aus Hotdogs, Pommes und Limonade. In diesem System bleiben den benachteiligten Ethnien und Schichten bloß die Reste des Festmahls - die gleichen Speisen, aber weniger davon. Freie Bildung, moderne Medizin, politische Freiheit und alles andere, was zum modernen Leben gehört, erhalten sie in der Billigversion. Die Liebhaber von Hotdogs und Pommes mögen mir verzeihen, aber die Lösung liegt nicht darin, die ganze Welt an der Orgie der Völlerei teilhaben zu lassen. Dies würde nur dann Sinn machen, wenn es nichts anderes gäbe als Hotdogs und Pommes. Aber in Wahrheit verhält es sich so, dass die besten Speisen einfach von der Speisekarte verbannt wurden. Gerechtigkeit heißt nicht, dass alle anderen beim Festmahl der Weißen teilnehmen müssen. Gerechtigkeit heißt aufzuhören, allen den Speiseplan zu diktieren, und stattdessen respektvoll voneinander zu kosten und miteinander zu teilen und gemeinsam eine Vielfalt an Festmählern zu gestalten.
Wenn es nur Hotdogs und Pommes gibt, ist es besser sie zu essen, als zu verhungern. Wenn es keine gerechte Vermögensverteilung gibt, ist man besser reich als arm. Wenn es kein System zur Förderung gemeinschaftlichen Grundbesitzes und regionaltypischer Architektur gibt, ist es besser, sich ein Haus leisten zu können, als obdachlos zu sein. Wenn die Gemeinschaft keine eigenen Methoden gefunden hat, soziales Verhalten zu regulieren, sollte man die Polizei auf seiner Seite haben. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der traditionelle Heilmethoden nicht stark verwurzelt sind, ist es besser eine Krankenversicherung zu haben, als von der einzigen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen zu sein, die es gibt. Wenn es keine regionale Lebensmittelsouveränität gibt, dann ist es besser, wenn man es sich leisten kann im Biomarkt einzukaufen, als beim Discounter. Wenn es keine gut funktionierende Schenkkultur gibt, ist es besser Geld zu haben, als keins. In unserer heutigen Welt ist man besser dran, wenn man zu den Privilegierten gehört; doch der Privilegiendiskurs setzt seine eigenen Werte als übergeordnet voraus. Er setzt voraus, dass das Leben des wohlhabenden Vorstadtmenschen mit seiner privaten Krankenversicherung, seiner abgesicherten Schulbildung, einem sicheren Anlageportfolio, freundlichen Polizisten im Viertel, Zugang zu einem gut ausgestatteten, modernen Krankenhaus und dem Bioladen um die Ecke das gute Leben ist. Wäre das alles doch bloß für alle zugänglich. Wäre doch nur genügend Platz für alle am Tisch der Weißen!
So ein Lebensstil, übertragen auf alle, wäre ökologisch unhaltbar, doch die Problematik liegt noch tiefer. Auch gesellschaftlich ist es unmöglich, alle an diesem Leben teilhaben zu lassen, denn der Wohlstand der Einen beruht notwendigerweise auf der Armut der Anderen. Und auch das zeigt noch nicht die gesamte Problematik auf. Das Festmahl der Weißen entbehrt in Wirklichkeit jeder Nahrhaftigkeit. Depression, Selbstmord, psychische Erkrankungen, Suchterkrankungen und Scheidungen nehmen rapide zu, nicht nur unter den Privilegierten, die die Ehrenplätze an der Festtafel einnehmen, sondern auch unter denen, die sich unter dem Tisch um weggeworfene Reste von Hotdogbrötchen balgen. Sieht so das gute Leben aus, das wir allen Menschen ermöglichen wollen?
Wenn Sie nach den glücklichsten Menschen der Welt suchen, werden Sie sie nicht in Beverly Hills oder auf Long Island finden, sondern unter den Hadza oder den Q‘eros, oder in einem kleinen Dorf in Ghana oder Bhutan. Es ist nicht der Westen, der die Kunst des Menschseins am weitesten vorangetrieben hat.
Und so verhält es sich nicht nur mit dem Glück, sondern auch mit der Gesundheit. Das, was wir die „Medizin der Weißen“ nennen könnten, hat wunderbare Erfolge erzielt, vor allem was die Notfallmedizin angeht. Generell könnte man jedoch darüber diskutieren, ob unsere Gesellschaft gesünder ist als die traditionellen Gesellschaften. Nicht nur psychische und gesellschaftliche, sondern auch chronische körperliche Leiden nehmen zu. Die moderne Medizin kann hier zwar manchmal die Symptome lindern, bietet jedoch kaum Möglichkeiten der Heilung. Autoimmunerkrankungen, Allergien, Stoffwechselstörungen und vor allem chronische Erkrankungen bei Kindern breiten sich in noch nie dagewesenem Maße in allen Gesellschaften im Gleichschritt mit deren Modernisierung aus. 1960 betrug die Häufigkeit von chronischen Erkrankungen bei Kindern in den USA 1,8 %. Heute liegt sie bei über 50 %.
Es war der Zahnarzt Weston A. Price, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen Modernisierung und Gesundheitsverlust beobachtete, als er in abgelegene Gebiete der Erde reiste um den Gesundheitszustand von Menschen zu dokumentieren, die von modernen Ernährungsweisen bislang verschont geblieben waren. Von den Äußeren Hebriden bis Polynesien, von den Siedlungen der Inuit bis zu den Dörfern der Massai trug er 15.000 Fotos und unzählige Berichte zusammen, in denen er den allgemeinen Gesundheitszustand der Menschen dieser Orte beschrieb: Sie hatten breite Gaumen mit allen 32 Zähnen, kaum Karies, keine Herzerkrankungen, leichte Geburten, keine chronischen Krankheiten, und so weiter. Erst durch die Einführung des modernen Ernährungs- und Lebensstils breiteten sich Zivilisationskrankheiten - die wir für normal halten - auch dort immer mehr aus. Und sobald sich die Ernährungsweise und der Lebensstil der Weißen durchgesetzt hatten, bedarf es auch der „weißen“ Medizin um die gesundheitlichen Folgen zu bekämpfen. (Auch hier „weiß“ in Anführungszeichen; die gemeinten Kulturen hatten alle möglichen Hautfarben.)
Mit dem Essen und den Gewohnheiten der Kolonisatoren kamen auch deren Krankheiten. Und mit der Religion und der Weltsicht der Kolonisatoren kam ihre Medizin. Sollte unsere eigene Art der "Moderne" das unausweichliche Schicksal der Welt vorgeben, dann sind auch ihre Krankheiten ein Teil davon, die gesellschaftlichen wie auch die physischen. Fortschritt für die „Unterentwickelten“ bedeutet dann, ihnen die Medizin, die Bildung und die politischen Systeme bereitzustellen, die zur Behandlung ebenjener Krankheiten entwickelt wurden.
Das heißt aber auch, dass weitgehende Veränderungen in unserem Denken und unserer Lebensweise vonnöten sind, wenn wir uns für die Anwendung der TCM oder afrikanischer traditioneller Heilmethoden entscheiden, denn keine dieser Heilmethoden eignet sich als Ergänzung zu einem ansonsten völlig konventionellen Leben. So beginnt mit ihnen oft ein neuer Weg, weg vom konventionellen Leben.
Aber in Anbetracht der Ernährung, die den meisten Menschen zur Verfügung steht, und der Realitäten des modernen Lebens, ist es besser Symptombekämpfung zu betreiben, als gar nicht behandelt zu werden (was bei den Armen und Unversicherten oft der Fall ist). Innerhalb dieses Kontextes ist der Privilegiendiskurs unumstößlich. Er nimmt jedoch viele Werte und Hypothesen ebenjener Welt als gegeben an, die er zu stürzen sucht.
Was ist wirklich?
In ihrer Auseinandersetzung mit dem oben besprochenen ontologischen Imperialismus gehen wohlwollende Anti-Rassismus-Aktivisten manchmal dazu über, das nicht-rationale, empirische, „andersartige Wissen“ zu feiern und es als Gegenpol zur linearen, rationalen, auf Beweisen beruhenden „weißen“ Wissenschaft darzustellen. Dieser Ansatz ist leider von demselben kulturellen Überlegenheitskomplex durchsetzt, den ich bereits beschrieb. Es stimmt nämlich nicht, dass die TCM oder die dem Exorzismus zugrundeliegenden Glaubenssätze unlogisch sind oder nicht auf Beweisen beruhen. Ihnen liegen lediglich andere Grundannahmen, eine andere intendierte Funktionsweise und eine andere Metaphysik zugrunde. Und sie stellen das Denken in Mustern über das lineare Denken, synthetisches Denken über analytisches und die Teleologie über den Reduktionismus.
Taucht man in Mythologien ein, die weder wissenschaftlich sind, noch der westlichen oder der „weißen“ Welt entspringen, so stößt man bald auf Beweise für ihre Wirklichkeit. Laut dem modernen Denken gibt es eine echte Wirklichkeit, und alles andere sind Vorstellungen von der Wirklichkeit. Dieses Denken steht im Widerspruch zu anderen Kulturen, für die die Beziehung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Namen und Ding ein Geheimnis birgt. Versuchen Sie einmal, sich auf eine fremde Kultur wirklich einzulassen, sprechen Sie ihre Namen aus, feiern Sie ihre Rituale, und ihre Bewohner werden Sie willkommen heißen. Tauchen Sie einmal tief in die Welt einer wirklichen Voodoo-Priesterin, eines Andenschamanen oder eines taoistischen Mönchs ein, und Sie werden Dinge erleben, die in der herkömmlichen wissenschaftlichen Weltsicht unmöglich sind.
Einst hörte ich eine Geschichte über den großen Anthropologen Kristofer Schipper, der sich mit dem religiösen Taoismus beschäftigte und eine lange Lehrzeit bei taoistischen Priestern in Taiwan absolvierte. Mitten in der Nacht riss ihn ein Klopfen an der Tür aus dem Schlaf. Als er die Tür öffnete, erblickte er drei wandelnde Leichen, die ihn anstarrten. „Falsche Hausnummer!“, schnauzte er, schlug ihnen die Tür vor der Nase zu und ging wieder zu Bett. Als ich diese Geschichte einem Freund erzählte, sagte dieser: „Wenn du die Welt des Volkstaoismus betrittst, kann es sein, dass die Untoten hin und wieder bei dir vorbeischauen.“ In dieser Mythologie sind sie wirklich.
Was ist wirklich in unserer eigenen (Mainstream-)Mythologie? Viren, zum Beispiel. (Man führe sich nur vor Augen, wie unsere Religion - die Wissenschaft - auch ihre eigenen Ketzer hat, die nicht daran glauben, dass SARS-CoV-2 die Krankheit Covid-19 verursacht und in der Tat werden diese auch behandelt wie wirkliche Ketzer. Folglich führen wir eine Reihe von Ritualen aus, um den bösen Geist zu vertreiben, den wir Virus nennen. Wir legen die ursprünglichste aller rituellen Ausrüstungen an, eine Maske. Wir halten Abstand von den Unreinen, aus Angst, der Geist könne von ihnen auf uns überspringen. Wir unterziehen uns diversen Reinigungsritualen wie der Händewaschung und der Händedesinfektion. Jene, die schwer erkranken, begeben sich in spezielle Tempel (Krankenhäuser), wo hochqualifizierte Akolythen in zeremoniellen Gewändern verschiedene magische Zaubertränke, Tabletten und rituelle Geräte zum Einsatz bringen. Genauso wirklich und sinnvoll wie uns diese Verfahren erscheinen, so wirklich und sinnvoll sind für andere Kulturen ihre eigenen Vorstellungen und Praktiken. Wir neigen dazu, unseren eigenen Verfahren mehr Gültigkeit einzuräumen, indem wir sagen, dass sie ja schließlich keine Rituale seien, sondern auf realen Ursachen und Wirkungen basierten und durch die wissenschaftliche Methode überprüfbar seien. Dabei erkennen wir nicht, dass wir möglicherweise in einer Mythologie leben, die sich selbst vergegenständlicht.
Wir befinden uns in einem historischen Moment. Unsere Mythologie und die grundlegenden Narrative, über die wir das Selbst und die Welt erfahren, befinden sich im Umbruch: Nachdem sie zuerst andere Kulturen der Welt infiltriert haben, erlebt sie nun ihren eigenen Niedergang. Die Zutaten der unzähligen Festspeisen der Weltkulturen liegen über die ganze Küche verteilt. Um aus ihnen etwas zuzubereiten, das kostbarer ist als alles, was wir je probiert haben, müssen wir zuerst die Vorstellung aufgeben, dass unsere Speisen die besten sind. Eine neue Mythologie kündigt sich an. Damit sie Wirklichkeit wird, müssen wir den Mut aufbringen, die alte aufzugeben, selbst wenn wir sie einst für die absolute Wirklichkeit hielten. Glücklicherweise wird uns dieser Prozess dadurch erleichtert, dass sich die alte Wirklichkeit bereits von selbst auflöst. Ohne Zweifel haben sich die wirtschaftliche und die politische Wirklichkeit verändert. Doch dabei wird es nicht bleiben. Der Auflösungsprozess wird weitergehen.
Sogar die Wissenschaft selbst verändert sich und sieht das, was sie lange Zeit als Geschwätz abtat, mit anderen Augen. So wurde zum Beispiel die Vorstellung von außerirdischen Besuchern auf der Erde von Wissenschaft und Politik belächelt, seit ich denken kann. Mit wissenschaftlicher Autorität wurde erklärt, die sogenannten UFOs seien nichts anders als Wetterballons, Sumpfgase, optische Täuschungen oder Falschmeldungen. Heute erkennen selbst die New York Times und die US Navy die zahlreichen, von ausgebildeten Luftbeobachtern gelieferten Berichte von Phänomenen am Himmel, die die Möglichkeiten der heutigen Technologie bei Weitem überschreiten, an. Selbst die grundlegenden metaphysischen Hypothesen der Wissenschaft kommen ins Wanken. Dazu gehören in erster Linie die Beobachterunabhängigkeit und die Isolierbarkeit von Variablen. Denken Sie einmal über die Quanten-Nichtlokalität und das Problem der quantenmechanischen Messung nach, oder über die nichtlineare Emergenz und die Ordnung aus dem Chaos; oder setzen Sie sich etwas näher mit Themen wie dem Placebo-Effekt, dem Gedächtnis des Wassers, dem Psi-Phänomen, der Bengston-Methode etc. auseinander: Sie werden sehen, wie die Wissenschaft, und mit ihr auch die Medizin, immer mehr jenen Wissenssystemen ähnelt, die sie bislang immer herabgewürdigt hat. Anstatt andere Kulturen zu unserem Festmahl zu laden, werden wir in Zukunft womöglich unseren Tisch verlassen, um bei anderen zu Gast zu sein.
Was für die Wissenschaft und die Medizin gilt, gilt auch für den Rest des Lebens. Werden wir weiterhin versuchen, dem Rest der Welt unsere politischen Systeme aufzudrängen, obwohl diese sich nach und nach zersetzen? Werden wir Afrika weiterhin unsere Anbaumethoden mit ihrem massiven Einsatz von Chemikalien und Maschinen aufdrängen, obwohl sie zum Scheitern verurteilt sind? Statt dies zu tun, könnten wir einfach eingestehen, dass wir all die Dinge, die ich weiter oben aufzählte, dringend brauchen. Wir könnten unseren Überlegenheitskomplex ablegen und aus einer Haltung der Demut heraus wiederentdecken, was für ein Leben in Harmonie miteinander und mit der Erde nötig ist: die Volksmedizin, Lebensmittel-Nahversorgungssysteme, die Geschenkökonomie, das Lernen durch unmittelbare Erfahrung, Formen der Zeremonie und des Betens und die richtige Denkweise und Wahrnehmung.
Selbstverständlich sind nicht nur farbige Gesellschaften im Besitz dieses Wissens, doch die dominante Kultur, die wir als „weiß“ bezeichnen, unterdrückt es seit langem oder ignoriert es einfach. Glücklicherweise ist es weiterhin in Kulturen erhalten, die Orland Bishop „Kulturen mit Gedächtnis“ nennt: traditionelle und marginalisierte Kulturen, sowie versteckte Ahnenlinien innerhalb der dominanten Kultur. Vielleicht hat die westliche Zivilisation die Welt letztendlich doch nicht erobert. Die Eroberung scheint ein zeitlich begrenztes Phänomen zu sein. Die vermeintlich besiegten Kulturen sind immer noch lebendig und warten darauf, dass unsere eigene erschöpft zusammenbricht. Einige von ihnen überleben relativ unversehrt an entlegenen Orten. Andere bestehen in Gesellschaften fort, die, wie Indien und China, zu groß sind um gänzlich verwestlicht zu werden, und unter Minderheiten, die sich der völligen Assimilation widersetzen (was sich in Praktiken wie dem Voodoo niederschlägt). Manche sind tief verwoben mit der Hauptkultur selbst, verankert in ihren Weisheitslinien, Bräuchen, Aberglauben, Unterschichten und Gegenkulturen. Selbst Völker, die gänzlich ausgelöscht scheinen, haben der Nachwelt ihre Samen hinterlassen, indem sie Weisheit über das Land säten, eine Weisheit, die vielleicht noch wiedergewonnen werden kann, uralte Samen, die auf eine Jahrtausendflut warten. Diese Kulturen mit Gedächtnis liefern die Zutaten und die Rezepte, nach denen die Menschheit gemeinsam ein wirkliches Festmahl bereiten könnte.
Übersetzt von Janet Klünder, Christoph Peterseil, Stephan Pfannschmidt und Nikola Winter. Die englische Originalfassung dieses Essays wurde im August 2020 hier veröffentlicht.
Dieser Essay ist auch in Charles’ Buch “Die Krönung. Wie das Coronavirus die Gesellschaftsordnung infrage stellt” enthalten.